Rückbesinnung auf die Landschaft

Selma Alihodžić
5. Oktober 2023
Der Schweizer Beitrag «The Sound of Architecture» stammt von einem Team der Accademia di architettura um Riccardo Blumer. Er ist Teil der Schau «Nowhere, Now here. Experiential Node: Gleaned Human Senses». (Foto: © Seoul Biennale of Architecture and Urbanism, Wayd)

Was ist von den traditionellen Gestaltungsprinzipien im heute dicht besiedelten Seoul noch übrig geblieben? Mit dem Thema «Land Architecture – Land Urbanism» tritt das Kuratorenteam der Seoul Biennale in den Dialog mit Architekten, Künstlern, Partnerstädten, aber auch Hochschulen aus aller Welt, um die Gegenwart und Zukunft der Stadt auszuloten. Zum ersten Mal legt die Schau den Fokus auf Seoul selbst. 

Ziel der Biennale ist es, Seoul beispielhaft als Testgelände zu nutzen und Lösungsansätze für die immer dringender werdenden Probleme globaler Städte zu erforschen. Kuratorisch ist die Biennale aufgeteilt in fünf Kapitel. In der zweiteiligen Hauptausstellung werden ausgewählte Architektur- und Städtebauprojekte diskutiert. Neben den Herausforderungen des Klimawandels rückt die Suche nach Identität von Räumen in den Vordergrund und lenkt den Blick auf neue Wege der nachhaltigen Gestaltung. In der Ausstellung «Seoul 100-year Masterplan» werden 40 Impulsgeber für die künftige Gestaltung der Stadt präsentiert. In der Parallel-Grounds-Ausstellung wird der Frage nachgegangen, wie man Widersprüche wie Verdichtung und Lebensqualität überwindet. In der Global-Studios-Ausstellung rückt der Stadtfluss Han in den Fokus. Die On-Site-Projects bringen Installationen in die Parklandschaft der Songhyeon Green Plaza. 

Ausschnitt der Beiträge der Schau «Parallel Grounds – Cities between Density and Public Value»; im Vorderungrund ist der Schweizer Beitrag «Urban Plate Tectotnics» zu sehen, der Basel als Partnerstadt Seouls zeigt und sich dem Stadtfluss Rhein widmet. Die Arbeit stammt von MIDERI Architekten im Auftrag des Präsidialdepartement des Kantons Basel-Stadt. (Foto: © Seoul Biennale of Architecture and Urbanism, Wayd) 
Für die Biennale wurde ein wiederverwendbares Modulsystem entwickelt. (Foto: © Seoul Biennale of Architecture and Urbanism, Wayd)
Besuchermagnet Pavillons

Raus aus den künstlich beleuchteten Ausstellungsräumen, hinein in die Stadt und die Landschaft. Verteilt auf mehrere Standorte in Seoul öffnet sich die Biennale für den Dialog mit der Stadtbevölkerung. Dieser partizipative Ansatz ist für die Ausstellung Neuland. Zum ersten Mal nach 110 Jahren ist die Songhyeon Green Plaza als neu gestalteter Park für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. «Nowhere, Now here» – mit diesem Wortspiel im Projekttitel läutet das Kuratorenteam der Biennale das Ende des Inseldaseins der brachliegenden Landschaft ein und präsentiert sieben Pavillons. In einzigartiger topografischer Lage und in unmittelbarer Nähe des Gyeongbokgung-Palastkomplexes sowie der historischen Quartiere der Stadt arbeiten koreanische und internationale Künstler und Architekten gemeinsam die bewegte Geschichte des Ortes auf. Mit über 50'000 Besuchern in den ersten drei Wochen sind die On-Site-Projects tatsächlich der gelungene Höhepunkt der Biennale. 

Die Songhyeon Green Plaza ist zum ersten Mal nach 110 Jahren als neu gestalteter Park unter der Schirmherrschaft der Metropolstadtverwaltung Seoul für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Das Gelände sowie einige der Pavillons bleiben nach der Biennale noch drei Jahre öffentlich zugänglich. (Foto: © Selma Alihodžić)
Die Songhyeon Green Plaza mit den sieben Pavillons und Installationen (Foto: © Seoul Biennale of Architecture and Urbanism, Yongjoon Choi)
Stadt und Landschaft wahrnehmen

Neben den zahlreichen internationalen Beiträgen sind auch Schweizer Perspektiven vertreten. Hélène Binet zeichnet ihre Beziehung zur Landschaft und Kreativität mit dem Interview-Projekt «Land Architecture Atlas» in der Hauptausstellung nach. Als Partnerstadt Seouls wird Basel mit dem Stadtfluss Rhein im Beitrag von MIDERI Architekten porträtiert. Zu den On-Site-Projects gehört auch die Klanginstallation «The Sound of Architecture», die Riccardo Blumer mit einem Team der Accademia di architettura entwickelt hat. Sie schärft als inszeniertes Erlebnis die Wahrnehmung von Klängen und der Umgebung Seouls. 

Wenn der Geräuschpegel des Verkehrslärms in Seoul verschwindet, vermischen sich plötzlich die Klänge der sommerlichen Landschaft mit jenen der umgebenden historischen Tempel. Ruhe kehrt auf dem Biennalegelände ein, und man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt. Diese Rückbesinnung auf das persönliche Erleben von Stadt und auf die reiche Geschichte, die das Biennalegelände umgibt, sowie das Spüren der Landschaft, durch die man sich bewegt, sind zentrale Themen aller On-Site-Projects. Erst dort wird einem bewusst, welche einzigartigen Elemente Seoul ausmachen. 

Der Jitda Pavilion von Junggoo Cho (Foto: © Selma Alihodžić)
Die Arbeit «Reworld» von Kimchi and Chips (Mimi Son und Elliot Woods) (Foto: © Selma Alihodžić)
«Trees & Traces. An (In)Visible Pavilion» von Plastique Fantastique (Marco Canevacci und Yena Young) (Foto: © Selma Alihodžić)
«The Outdoor Room» von Frank Barkow + salazarsequeromedina (Foto: © Selma Alihodžić)
Lehren aus der Geschichte Seouls zur Wechselwirkung zwischen Architektur und Landschaft

Doch was ist genau mit «Land Architektur» gemeint und warum «Land Urbanismus»? Ein Seoul der Zukunft verbindet man vielleicht mit Sci-Fi-Welten wie dem «Cloud Atlas» von Mitchell/Tykwer. Die Stadt Seoul sucht nach ihren Wurzeln und möchte ihre kulturelle Identität in dem rapiden Wandel, der durch Globalisierung und Digitalisierung ausgelöst wird, nicht verlieren. Betrachtet man den Masterplan der Stadt aus dem späten 18. Jahrhundert, den sogenannten «Doseongdae»-Plan, so zeichnet sich eher eine topografische Landkarte ab, in der Architektur und Landschaft mit den Flüssen und Bergketten zusammengewachsen sind: Strassen folgen der Topografie und verbinden sich zu einem Netzwerk. Gebäude und Quartiere sind auf Plateaus platziert, wo es einfacher ist, sich anzusiedeln und die Anlagen später zu verdichten. Doch in den vergangen hundert Jahren hat sich das Bild gewandelt: Die Stadtentwicklung folgt nicht länger den Gegebenheiten des Naturraums, sondern den Gesetzen der rapiden Verdichtung. 

Die Entwicklung einer Stadt von der Grössenordnung Seouls lässt sich unmöglich rückgängig machen. Diesen Anspruch haben die Biennale und die Stadtverwaltung auch nicht. Stattdessen fragt das Kuratorenteam mit den eingeladenen Teilnehmern, was im Hier und Jetzt aus der Ökologie der Gründungsphilosophie Seouls gelernt werden kann. Was kann man heute schon verändern, um die Architekturgestaltung und Stadtplanung für die Generationen von morgen nachhaltig zu verbessern?

Seoul heute (Foto: © Seoul Biennale of Architecture and Urbanism, Yongjoon Choi)
«Doseongdae», Plan Seouls aus dem späten 18. Jahrhundert, 180 auf 213.6 Zentimeter (© Seoul Museum der Geschichte)

Ein erster konsequenter Schritt ist es, nach draussen zu gehen, die disziplinären Grenzen zu sprechen und die altbekannten Formate einer Biennale zu erweitern. Als weiteren Schritt hat sich die Biennale einer Zero-Waste-Ausstellungsgestaltung verschrieben: Alle Ausstellungskomponenten, Pavillons und Ausstellungsbauteile werden für die kommenden Editionen und andere Veranstaltungsformate wiederverwendet. Für die Ausarbeitung dieses Konzepts ist das junge Architekturbüro Post Standards beauftragt worden. Noch nie in der Kulturgeschichte gab es so viele Ausstellungen und Biennalen wie heute. Dieser Ausstellungswucht setzen die Architekten ein Modulsystem entgegen, das die multifunktionale Nutzung von Ausstellungselementen als Paneele, Tische, Sitzmöbel und Ausstellungswände sowie hybride Variationen davon ermöglicht.

Biennaledirektor und Architekt Byoung Soo Cho versteht Architektur als einen Prozess. Sie entwickelt sich nach seiner Auffassung aus einer komplexen Wechselwirkung mit formellen, funktionellen, ökologischen und kulturellen Faktoren des jeweiligen Kontexts. Und hierfür sensibilisiert die Biennale von Seoul.

Die Seoul Biennale für Architektur und Urbanismus läuft noch bis zum 29. Oktober dieses Jahres. Das Gelände der Songhyeon Green Plaza sowie einige der Pavillons bleiben nach der Schau für drei Jahre öffentlich zugänglich. Mehr Informationen

 

Selma Alihodžić ist Architektin, Autorin und Kulturschaffende. An der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart lehrte sie Architekturtheorie und realisiert Kulturprojekte in Zusammenarbeit mit Künstlern, Architekten und NGOs in der Schweiz, in Deutschland, im Vereinigten Königreich und in Japan. Sie lebt und arbeitet zwischen Basel und Tokyo.

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