Kunst heilt

Susanna Koeberle
3. Mai 2021
Mai-Thu Perret, «Untitled (after no. 067)», Neonröhren, 2020, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und der Galerie Francesca Pia, Zürich (Foto: Conradin Frei)

Emma Kunz (1892–1963) verstand sich nicht als Künstlerin. Ihre Zeichnungen, bei denen sie sich durch ihr Pendel leiten liess und diese Botschaften anschliessend mit Lineal und Zirkel aufs Papier übertrug, sah sie als Instrumente für ihre Tätigkeit als Heilerin. Nicht das Schaffen von etwas «Schönem» stand also im Vordergrund, die Zeichnung war ein Versuch, die Welt in ihrer Ganzheit (dazu später mehr) zu verstehen. Kunz war so gesehen Wissenschaftlerin, nur, dass sie sich anderer Methoden als derjenigen der klassischen Naturwissenschaft bediente. Wobei das Wort bedienen hier eigentlich irreführend ist, denn genau das tat sie eben nicht. Ihre Tätigkeit ist vielmehr medialer Natur, im Sinne eines Zulassens von und Interagierens mit anderen Entitäten. Dass ein Subjekt etwas betrachtet und dabei sich selbst als Beobachtendes nicht reflektiert, ist das Fragwürdige an der anthropozentrischen Herangehensweise der Naturwissenschaften. Der Blick des Menschen ist gleichsam sein blinder Fleck – das ist übrigens nicht nur in der Wissenschaft ein Problem. 

Emma Kunz, Werk Nr. 165, undatiert, Farbstift und Ölkreide auf braunem Millimeterpapier, © Emma Kunz Stiftung, Würenlos (Foto: Conradin Frei)

Die Weltwahrnehmung von Emma Kunz steht zu dieser Haltung in einem radikalen Gegensatz. Für sie bildeten Spiritualität und die Materialität unserer Welt keinen Gegensatz. Und genau darin liegt neben der unbestrittenen Qualität ihres «künstlerischen» Werks – denn ihre Zeichnungen sind schlicht wunderschön – auch die Aktualität der Arbeit dieser Visionärin. Visionärin auch deshalb, weil wir heute an einem Punkt stehen, an dem wir viele Gewissheiten hinterfragen müssen; und an dem unser Planet dringend der Heilung bedarf. Ob das, was sie machte, Kunst ist, war für sie unwichtig, vielmehr war das «Zeichnen» Teil einer ganzheitlichen Praxis, die unterschiedliche Handlungsfelder miteinander verband. Emma Kunz’ Arbeiten stellen also nicht die Frage, was Kunst ist, sondern was Kunst kann. 

«Kunst hilft. Kunst heilt. Kunst stärkt. Kunst schützt. Kunst widersteht», so die Behauptung von Thomas Hirschhorn, die er an einem digital verbreiteten Vortrag im Rahmen der aktuellen Ausstellung im Aargauer Kunsthaus in den Raum stellte. Der Schweizer Künstler ist einer von vielen Kunstschaffenden, die aus dem Schaffen von Emma Kunz Inspiration schöpfen (wie etwa seine Arbeit «Superficial Engagement» aus dem Jahr 2006 zeigt). Für die Schau in Aarau lud die Kuratorin Yasmin Afschar fünfzehn internationale Kunstschaffende ein (Hirschhorn ist nicht darunter und auch sonst sind männliche Positionen für einmal in der Unterzahl), die einen Bezug zu Emma Kunz und ihrer Arbeitsweise haben. Die ausgestellten Arbeiten führen die Wichtigkeit eines transdisziplinären Diskurses in der Kunst vor.

Emma Kunz, Werk Nr. 187, undatiert, Bleistift und Farbstift auf braunem Millimeterpapier, © Emma Kunz Stiftung, Würenlos (Foto: Conradin Frei)

Erstmals wurden die Zeichnungen von Emma Kunz 1973 im Aargauer Kunsthaus gezeigt. Damit begann die künstlerische Rezeption ihres Werks, das unterschiedliche Phasen durchmachte. Erwähnt sei hier das Interesse Harald Szeemanns (1933–2005) an ihrer Arbeit, die er an ebendieser Ausstellung in Aarau entdeckt hatte. Er interviewte damals verschiedene Persönlichkeiten, die Emma Kunz gekannt hatten. Diese Zeugnisse sind wichtig, denn Emma Kunz selber hat wenig Schriftliches hinterlassen. Der damals schon bekannte Kurator interessierte sich für Randpositionen und schuf in seinen Ausstellungen Verbindungen zwischen disparaten Elementen. 

Videostill aus «Restless Leg Saga» von Shana Moulton, 2012, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und der Galerie Gregor Staiger, Zürich (© Shana Moulton)

Das Etikett des Sonderfalls haftete Emma Kunz lange an, überhaupt wurde diese Art von «Outsider»-Kunst häufig belächelt und in die esoterische Ecke geschoben. Heute hat sich diese Wahrnehmung geändert, unter anderem weil die Kunst immer stärker auf andere Disziplinen zurückgreift: Sowohl naturwissenschaftliche Forschung als auch spirituelle Praktiken durchdringen sich in der künstlerischen Produktion und schaffen damit eine neue Sicht auf die Komplexität unserer Lebenswelt. Das Unerklärliche zu akzeptieren, fällt uns Menschen generell schwer. Kunst kann dazu beitragen, diesem opaken Durcheinander ein Gesicht zu geben, gleichsam ein fassbares Gegenüber anzubieten. Das ist wichtiger denn je! Diese vielfältigen Herangehensweisen, Strategien und Medien aufzuzeigen, ist ein besonderes Verdienst der Ausstellung in Aarau. Das Arrangement der Werke und der Dialog mit den Arbeiten von Kunz schaffen eine stimmige und inspirierende Umgebung, welche die Grundtonalität von Emma Kunz’ ganzheitlichem Ansatz weiter strickt. Das Offene und Unabgeschlossene eines solchen Diskurses lässt auch uns Besucher*innen auf individuelle Weise daran teilhaben.

Die Ausstellung im Aargauer Kunsthaus (Aargauerplatz, 5001 Aarau) bleibt bis 24. Mai geöffnet. Die Öffnungszeiten sind dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr. Am Donnerstag hat das Kunsthaus gar bis 20 Uhr geöffnet, immer montags ist es geschlossen.
Kosmos Emma Kunz. Eine Visionärin im Dialog mit zeitgenössischer Kunst

Kosmos Emma Kunz. Eine Visionärin im Dialog mit zeitgenössischer Kunst
Yasmin Afschar (Hrsg.)

245 x 325 Millimeter
208 Seiten
217 Illustrationen
paperback
ISBN 9783858816825
Scheidegger & Spiess
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