Radikale Denkmalpflege

Manuel Pestalozzi
22. März 2016
Castillo de Matrera, vorher und nachher. Bild: Leandro Cabello/Carquero Arquitectura

Alle Architekturstudentinnen und -studenten werden im Laufe ihrer Ausbildung mit dem Thema Denkmalpflege konfrontiert, im Berufsleben können manche über den Kontakt mit den entsprechenden Behörden ein Liedchen singen. Klar: Ausgewählte historische Bauzeugen sollen der Nachwelt über Ereignisse, Fakten und Verfahren Auskunft geben. Abseits der streng akademisch argumentierenden Kreise ergibt sich daraus eine Melange aus Didaktik und Sentimentalität, die für den Laien oft verwirrend ist und manchmal auch Ärger verursacht.
 
Bauten haben fast immer die Eigenschaft zu verfallen. Das Bröckeln, Rosten und Vermodern liegt einfach in ihrer Natur. Unterhaltsmassnahmen soll diesen Prozess verlangsamen oder ganz aufhalten. Dies ist besonders dann problematisch, wenn die Fertigungstechniken nicht mehr ausgeübt werden und dem Vergessen anheim gefallen sind. Dann stellt sich die Frage, ob man mühsam herausfinden soll, wie es wohl unsere Ururgrosseltern getan haben und es anschliessend nachmachen. Oder ob man das, was noch da ist, vor dem endgültigen Zerfall schützen soll.
 
Beim Castillo de Matrera in der andalusischen Gemeinde Villamartín entschied man sich für die zweite Variante. Die Festung, im neunten Jahrhundert erbaut von Omar ibn Hafsún, ist nur noch in seinen Überresten erkennbar. Diese will man aber konservieren. 2013 stürzte ein grosser Teil eines verbliebenen Turms ein – wegen Reparaturarbeiten. Dem Architekten Carlos Quevedo Rojas fiel die Aufgabe zu, zu retten, was noch zu retten war. Seine radikale Massnahme fand die Zustimmung der Regionalregierung von Andalusien. Und sie entspricht den Richtlien der Denkmalpflege, die eine Rekonstruktion – Stichwort Mimikry – ausdrücklich verbieten.
 
Die Foto zeigt, dass man offenbar die Konturen des Turms mit Beton aus- und nachgoss. Von diesem scharfkantigen Volumen heben sich die Reste der Natursteinmauern leicht ab. Unglücklicherweise entsteht das Bild einer vorgeblendeten Natursteintapete, was vermutlich nicht der Natur dieser ungewöhnlichen Verbundkonstruktion entspricht. Der prismatische Betonkörper gibt sich neutral und zurückhaltend, aber es fällt schwer, ihn nicht als «Hauptsache» zu sehen. So, wie es diese neue Ergänzung vorgibt, war es eben nie, aber die alten Steine sind jetzt fixiert und können nicht mehr fallen.
 
Nach dem ersten Schock muss man sich eingestehen, dass die Verantwortlichen ihre Aufgabe wohl pflichtbewusst erfüllten. Und die Nachricht, dass diese einst kaum beachtete Ruine jetzt Besucherinnen und Besucher anzieht, wie noch nie, lässt den Leser schmunzeln. Fakt ist, dass das Ganze jetzt eine «neue Geschichte» erzählt und die historischen Fakten verdrängt werden. Die Ziele der Denkmalpflege werden somit ins Absurde umgeleitet.
 

Gondo mit dem teilweise rekonstruierten Stockalperturm. Bild: Tom Bisig

Man sollte sich im Falle der Denkmalpflege wohl immer überlegen, ob ein Objekt eher ein Symbol oder ein Artefakt ist. Das Beispiel aus Spanien gehört ziemlich klar zur ersten Gruppe. In dieser darf man sich Freiheiten erlauben. Es gibt Analogien zur Rekonstruktion des Stockalperturms in Gondo, der im Jahr 2000 teilweise von einem Erdrutsch weggerissen wurde. Die Erneuerung durch Haefele Schmid Architekten hebt sich dort unmissverständlich von der verbliebenen historischen Substanz ab. Diese Differenzierung schuldete man der Tragödie, die mehrere Menschenleben kostete.

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