Die gesellschaftliche Dimension der Architektur

René Haubensak (1931 bis 2018)

Jenny Keller
23. August 2018
Zollikerstrasse 191 bis 197, Umgebungsplan von René Haubensak

Der schwangeren Spaziergängerin sind die grau gestrichenen, manieristischen Wohnhäuser mit den rosa- und türkisfarbenen Gewänden und Fensterläden, den Wintergärten und den Sprossenfenstern im Zürcher Seefeld, an der Grenze zu Zollikon, gleich aufgefallen. Umgeben von einem alten Baumbestand, fügen sich die drei Häuser ganz selbstverständlich in die Natur ein. Kein Balkon gähnt leer auf einen anderen, durch Winkel entstehen Zwischenräume und vielfältige Beziehungen, die von einer Gemeinschaft freudvoll belebt werden. Die Fassaden strahlen eine Heiterkeit aus, wie man sie in Zürich selten sieht. Dem Aussehen nach muss die Siedlung in den 1980er-Jahren entstanden sein. Wäre doch seinerzeit mehr so gebaut worden, dachte die werdende Mutter damals. Und: So sollte man als Familie wohnen können. Wer mag das bloss entworfen haben? In den zahlreichen Wohnungsbau-Semestern an der ETH wurde dem Werk keine Beachtung geschenkt.
 
Einige Recherchen und ein paar Jahre später kam der Kontakt zu René Haubensak zu Stande. Viele Briefe und zwei Treffen folgten, in denen er erklärte, wie er als Architekt zum Auftrag an der Zollikerstrasse 161 bis 169 gekommen ist. Seine wichtigsten Gebäude, wie er festhielt. Linde, Buche und Zeder nannte er die Häuser, und in einer Wohnung lebte er selbst fast ein Drittel seines Lebens. Das System der Grundrisse funktioniere über die Diagonale, damit es möglichst viele Wege und keinen Gang gebe. Im 45- oder 60-Gradwinkel steigt man über die Nachbarswohnung nach oben oder nach unten. Acht Wohnungen hat jedes Haus, und jede Wohnung verfügt über einen Privatgarten oder eine Dachterrasse.

Einfahrt zur Siedlung Zollikerstrasse. Bild: mp

Zum Auftrag an der Zollikerstrasse kam René Haubensak durch eine Portion Frechheit, Selbstbewusstsein, natürlich Glück und viel Ausdauer: Marian von Castelberg habe ihn zu sich geholt für Umbauarbeiten ihrer Villa «Brunnenhof» oberhalb der Zollikerstrasse, sie brauchte ein zweites Treppenhaus für die Bediensteten. Beim Verabschieden soll sie gesagt haben: «Unten hat es eine grosse Landfläche, die wir überbauen wollen, das kann aber nur eine grosse Firma.» Da sagte René Haubensak ohne zu zögern: «Das können die nicht.» So soll der Autodidakt zum Vorhaben gestossen sein und zu zeichnen begonnen haben. Der Entwurfsprozess dauerte 10 Jahre und sei ein Kampf gewesen – vor allem einer mit den anderen Architektenkollegen. Sie haben sich gegen die Farben, die Kleinmassstäblichkeit und die fehlenden rechten Winkel mit ihrer ganzen Überzeugung gewehrt, erinnerte sich Haubensak mit einem Schmunzeln. Architekturtheoretisch hat die Siedlung es heute geschafft; sie wurde nach einem grossen Effort ihres Architekten 2105 unter Schutz gestellt. Dieser freute sich darüber, betonte aber immer wieder, dass die gesellschaftliche Dimension seiner Häuser, die als rares Beispiel des postmodernen Wohnungsbaus in der Schweiz gelten, verloren gegangen sei.
 
Der Innerschweizer kam nach einer Lehre in Bern und der Ausbildung bei Architekten in Genf, Paris, Finnland nach Zürich – vielleicht wäre Basel besser gewesen, meinte er (ironisch, oder nicht? Man konnte es nicht sagen), denn dort herrsche eine bessere Architektur- und Städtebaukultur. 1977 wurde er Mitglied beim Bund Schweizer Architekten (BSA) und hatte sein Büro lange Zeit in Zürich-Hottingen. In den Anfängen habe er viele Wettbewerbe gemacht, sich mit Kollegen gegen den Abriss eines Altstadthauses an der Trittligasse/Neustadtgasse und mit «20 Revolutionären» gegen das Zürcher Expressstreassen-Y oberhalb der Stadt gewehrt. Kleiner und subtiler war die Umgestaltung des Klingenhofs zu einer «Spielruine» oder die behutsame Sanierung des Sozialarchivs beim Bahnhof Stadelhofen. An der Mühlebachstrasse im Zürcher Seefeld hinterliess René Haubensak einen organischen Eingang à la Hundertwasser und setzte dem Haus ein zweites Dachgeschoss auf.  Sein Wettbewerbsbeitrag  für den damaligen HB-Südwest fand bei den Kritikern grossen Zuspruch. Ein gerahmtes Bild, bei einem Besuch aufgefallen, zeigt den Schwarzplan von Siena, nur waren die Zwischenräume, Strassen und Plätze schwarz eingefärbt und nicht die Häuser. Dieser Zwischenraum war es, dem René Haubensak mit Blick auf die Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt stets Rücksicht nahm. Das führte auch zu seiner Utopie «Aurinia», die in der NZZ vom 3.4.2015 Beachtung fand. 
 
René Haubensak hat sich stets leidenschaftlich, mit Humor und Feingefühl für die Architektur eingesetzt, und als er weniger entwarf, widmete er sich seiner zweiten Leidenschaft, dem Schreiben. Er hatte Zeit und liess seinen Bauwerken diese ebenfalls. So wurde sein letztes Projekt Ankenbüel in Zumikon, dessen Anfänge bis in die späten 1990er-Jahre zurückreichen und für das er Gestaltungsplan und Vorprojekt 2003 respektive 2005 gezeichnet hatte, erst diesen Sommer fertiggestellt. Am 18. August 2018 ist René Haubensak im Alter von 87 Jahren gestorben.

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