«Be an Outsider! Be a Hero! Be Robert Walser!»

Susanna Koeberle
19. August 2019
Der Besuch der Plastik gibt eine Antwort auf die Frage: Warum ist Robert Walser so wichtig? (Foto: Susanna Koeberle)

«Ce n’est pas de la connerie, c’est de la poésie» (Das ist kein Bullshit, das ist Poesie), schreit Thomas Hirschhorn verärgert, als ein sichtlich angetrunkener Mann über die Leserperformance lästert, die gerade in der begehbaren «Robert Walser-Sculpture» stattfindet. Diese ist schliesslich Teil seines Kunstwerks, das während fast drei Monaten (noch bis 8. September 2019) eine friedliche Begegnungsstätte sein soll: Ein Ort der Kunst und des Lebens, der sich mit seinen täglich stattfinden Performances in einer permanenten Transformation befindet. Der Künstler selber scheint regelmässig vor Ort zu sein, man spürt seine Identifikation mit dieser gigantischen Arbeit (der grössten jemals von Hirschhorn realisierten Arbeit im öffentlichen Raum) und mit ihrem Hauptprotagonisten, dem Schweizer Schriftsteller Robert Walser. 

Dieser wurde 1878 in Biel geboren und starb 1956 nach einem unsteten und mehrheitlich erfolglosen Leben. Er erfror während eines einsamen nächtlichen Spaziergangs an Weihnachten. Dem Autor von «Die Geschwister Tanner», »Der Gehülfe» oder «Jakob von Gunten» war zeit seines Lebens der grosse Erfolg verwehrt, obwohl er früh von Kollegen wie Franz Kafka oder Hermann Hesse bewundert wurde. Hirschhorn erkennt in Werk und Leben dieses Poeten eine Grundhaltung gegenüber der Kunst, die er selber teilt; er sieht sich als Teil der «Tanner Familie». Das Sichverlieren an das Leben macht Robert Walser für ihn zu einem persönlichen Helden. Walser sei der Schriftsteller des existentiellen Verlusts und der existentiellen Unsicherheit, so Hirschhorn in einem Text, den er während der aufwendigen Recherche zu diesem Projekt schrieb. 

Esperanto-Kurs mit Parzival'. «Bonan Tagon! Mio nomo estas: Parzival'» (Foto: Susanna Koeberle).

Zur Vorbereitung unternahm der Künstler seit 2016 während mehreren Tagen vor Ort Feldforschung. Es ging darum, mit der lokalen Bevölkerung von Biel, namentlich mit randständigen Menschen, in Kontakt zu treten, ihnen eine Stimme zu geben. Und sie damit zu ehren. Denn ein wichtiger Teil seines Werks sind eben Outsider (wie Robert Walser einer war), die in der Skulptur arbeiten und sie damit zu einem lebendigen Ort des Austausches machen. Rund 200 Bieler*innen sind an diesem Projekt beteiligt, zudem verschiedene Institutionen, Künstler*innen, Literaten oder Expert*innen. Zu ihnen gehört etwa der Outsider-Aktions-Künstler Parzival’ (mit dem kunsthistorischen Begriff der «Outsider-Kunst» kann ich mich zwar nicht ganz anfreunden), alias Monsieur le vert. 

Der «Modell-Soldat der Weltregierung» bietet in der Robert Walser-Skulptur 10-minütige Esperantokurse an. Einen solchen absolviere ich bei meinem Besuch. Ich kann nun mit Robert Walser sagen: «Tiu kiu pretendas koni min, ne konas min!» (Wer vorgibt, mich zu kennen, kennt mich nicht!) oder «mi estas sur la tero, tio estas mia starpunkto» (ich bin auf Erden, das ist mein Standpunkt). Selten hat mir ein Sprachkurs so viel Spass gemacht. Und selten bin ich dabei mit einer so radikalen und zugleich freundlichen Geisteshaltung in Berührung gekommen, welche die Augen öffnet für die Bedeutung von Kunst. Zugleich führt Parzivals’ Arbeit vor, wie wichtig es für unsere Gesellschaft ist, dass es auch Menschen gibt, die sich jenseits von egoistischem Nutzen und einem konformen Leben einer Sache verschreiben. 

Der Künstler Thomas Hirschhorn ist regelmässig vor Ort. (Foto: Susanna Koeberle)

Das Begehen dieses Konstruktes – etwas zwischen Haus und Bühne – wird zum Spaziergang durch Abgründe und Höhenflüge der menschlichen Existenz durch die Augen von Robert Walser (und Thomas Hirschhorn). Es gibt unter anderem eine Bibliothek, einen Ableger des Robert Walser-Zentrums und eine Kantine. Angeboten werden zudem ein Kinderprogramm, Vorträge, Lesungen und Spaziergänge. Nicht nur dieses reichhaltige Angebot macht einen Besuch dieses Kunstwerks wert. Die Plastik zeigt auch, wie städtische Räume durch solche Interventionen zu Orten werden, die den Begriff des Ortes sprengen, indem sie ihn aufladen mit einer radikalen Öffnung auf das Unbekannte. Oder um es mit Robert Walser zu sagen: «Das Zufällige ist immer das Wertvollste.» (aus: «Die Geschwister Tanner», 1907)

Eine «Schuh-Installation» vor der «Robert-Walser-Sculpture». Eine Hommage an den Spaziergänger Robert Walser? (Foto: Susanna Koeberle)

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