TAMassociati: «All unsere mobilen Kliniken arbeiten an der Bekämpfung von COVID-19»

John Hill
23. April 2020
Renzo Piano Building Workshop mit TAMassociati, Kinderkrankenhaus von Entebbe, Uganda (Foto mit freundlicher Genehmigung von Emergency NGO)
Das Büro TAMassociati wurde 1996 von Massimo Lepore, Raul Pantaleo und Simone Sfriso in Venedig gegründet. Das Motto des Teams lautet: «Taking Care in Architecture». Die Architekt*innen setzen sich insbesondere ein für notleidende Gemeinschaften, einen verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen, aber zuvorderst auch qualitätsvolle Architektur. TAMassociati haben viele Projekte im Gesundheitsbereich in Afrika, dem Nahen Osten und Europa verwirklicht. Darum hat unser World-Architects-Chefredaktor John Hill das Team anfangs April im Home-Office in Venedig via Skype zur Corona-Krise befragt.
 
Einen guten Eindruck von der Haltung von TAMassociati vermittelt das Buch «Taking Care. Architecture with Emergency»
TAMassociati über ihre Arbeit im Krankenhausbau

 

John Hill Wie geht es euch? Wie geht ihr mit der Situation in Italien um?

Simone Sfriso: In gewisser Weise hatten wir Glück: Wir haben schon vor längerer Zeit begonnen, «smart» zu arbeiten, denn wir haben Projekte im Ausland, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent und im Nahen Osten. Weil wir zudem drei Büros unterhalten – eines in Venedig, eines in Triest und ein weiteres in Bologna – waren wir schon gewohnt, Skype-Konferenzen abzuhalten und unser Netzwerk – sowohl unsere Partner als auch die Menschen, die mit uns zusammenarbeiten – über digitale Kanäle zu aktivieren. Von daher gibt es momentan keine grossen Veränderungen unserer Arbeitsabläufe.
Die Situation in Italien ist extrem. Doch hier in Venedig wie auch in Triest und Bologna ist es nicht ganz so schlimm. Wir sind derzeit alle zu Hause und werden es wahrscheinlich noch für einen weiteren Monat bleiben. Wir arbeiten weiter, aber mit grosser Vorsicht. Ich habe Glück, denn unser Büro ist nur 700 Meter von meinem Haus entfernt. Mir ist es möglich, ins Büro zu gehen. Dabei bewege ich mich durch ein völlig entvölkertes Venedig. Normalerweise haben wir jährlich 30 Millionen Tourist*innen bei nur 40'000 Einwohner*innen. Es ist verrückt.

Raul Pantaleo: Wir haben uns viele Werkzeuge angeeignet, um trotz räumlicher Distanz zusammen kreativ sein und unsere Ideen teilen zu können. Für andere Architekt*innen kann die Umstellung des Workflows bisweilen sehr schwierig sein, aber für uns hat sich im Grunde, wie Simone schon sagte, nichts geändert. Die Tatsache, dass wir eine Art Satellitenstruktur haben, hilft uns derzeit sehr. Bei der Arbeit, die wir gerade tun – wir sind zusammen mit Arup an einem Wettbewerb für einen Masterplan in Ruanda – werfen wir unsere Erfahrung mit virtuellen Arbeitsmethoden in die Waagschale. Grundsätzlich arbeiten wir auf der ganzen Welt, aber von zu Hause aus.
Weltweit bedarf es zukünftig grosser Veränderung, wir brauchen einen ethischen und ökologischen Ansatz in der Architektur. Was nach der Biennale von Venedig 2016 (TAMassociati kuratierten im italienischen Pavillon die Schau «Taking Care – Designing for the Common Good») geschehen ist – das Bewusstsein für Ethik in der Gestaltung ist gewachsen – erweist sich aktuell mehr und mehr als der richtige Weg. Wir entwerfen gerade ein Krankenhaus, wir kooperieren mit einer Organisation, die an der Bekämpfung von COVID-19 arbeitet, wir helfen bei der Gestaltung eines Notfallspitals – aber wir gehen damit nicht hausieren. Es ist, das muss ich schon sagen, ärgerlich, wie Architekt*innen sich durch dergleichen selbst vermarkten. Wir machen es einfach! Der ethische Ansatz besteht darin, vom Marketingansatz wegzukommen.

Mobiles Spital, seit 2014 (Foto mit freundlicher Genehmigung von Emergency NGO)

Ihr sagt, ihr arbeitet an neuen Projekten. Bedeutet das, dass die Leute unmittelbar auf euch zukommen? Initiiert ihr selbst Projekte?

Raul Pantaleo: Wir sind in die Prozesse eingebunden. Am Samstag bekamen wir einen Anruf von einem Spital. Man hat uns gebeten, bei der Organisation der Abläufe der Ärzt*innen zu helfen – nichts Besonderes, nur ein Service. All unsere mobilen Kliniken arbeiten an der Bekämpfung von COVID-19. Sie sind bereits seit vielen Jahren im Einsatz – weil wir uns gekümmert haben. Ich sehe viele Architekt*innen, die nun auch an solchen Projekte arbeiten – bla, bla, bla, COVID-19, dieses, das. Ich möchte keine Namen nennen. Leute, wenn ihr etwas tut, tut es einfach! Ihr braucht es nicht zu vermarkten.

Kürzlich gab es einen Vorschlag für Erweiterungen von Krankenhäusern in Italien, die aus Containern gebaut werden sollen. Macht das nach eurer Erfahrung mit dem Einsatz von Schiffscontainern Sinn?

Raul Pantaleo: Mobile Kliniken sind bereits auf dem Markt. Die Armee nutzt sie seit 30 Jahren. In sämtlichen Notlagen werden sie eingesetzt, Container nicht. Man muss Schiffscontainer erst sanieren, alles herausreissen – aber wir brauchen zusätzliche Kapazitäten jetzt. Es gibt nichts zu entwerfen, es ist alles schon da! Man braucht nur «mobile Kliniken» in irgendeine Suchmaschine einzutippen und erhält Hunderte von Beispielen. Worum geht es also? Es ist bloss ein Marketing-Schachzug von Architekt*innen, die für sich die grosse Bühne wollen. Jetzt ist es COVID-19, morgen wird es halt ein Tsunami sein, ein Erdbeben oder was auch immer. Da sind mir Designer*innen lieber, die «nur» Schmuck entwerfen, es aber gut machen und auf ethische Weise. Sie brauchen nicht auf «wow, ich versuche zu helfen» zu tun. Es ist eine ethische Frage.
Jemand der wirklich einen «Compasso d’Oro» (italienischer Industriepreis) verdient hat, sind die Jungs, die Schnorchelmasken für Sportler*innen mit einem Ventil so angepasst haben, dass sie zur Atemunterstützung eingesetzt werden können.

Simone Sfriso: Bevor man etwas neu entwickelt, sollte man prüfen, ob vielleicht etwas Erschwingliches und Bequemes bereits auf dem Markt ist. Wir haben mit Containern gearbeitet, aber in einem gänzlich anderen Kontext – bei einer Wohnanlage im Sudan. Wir beschlossen, sie zu nutzen, weil Altcontainer gerade verfügbar waren. Es war in diesem Fall ausnahmsweise die günstigste Lösung. Aber nochmal: Das erste, was zu tun ist, ist zu fragen: «Gibt es schon etwas? Kann ich etwas Besseres machen – oder nicht?» Ansonsten ist es nur Wichtigtuerei, wie Raul eben sagte.

Raul Pantaleo: Wenn Container jetzt in der Fachpresse als intelligente Lösung und günstig angepriesen werden… Das ärgert mich am jetzigen sogenannten sozialen Engagement in der Architektur. Gutes Design ist jenes, das sich mit der Realität auseinandersetzt. Und Realität bedeutet auch Ressourcen, und Ressourcen heissen auch Geld. Die erwähnten Masken sind ein grossartiges Beispiel: ein tolles Design mit sehr wenig Ressourcen. 
Ich habe immer Ethik, Ökonomie und Ökologie zusammengebracht. Hoffentlich wird das in Zukunft vermehrt geschehen. Sonst machen wir nämlich wieder so weiter wie gewohnt. Aber wir haben keine Zeit mehr für Business as usual.

Krankenstation mit Containern, Sudan, 2009 (Foto © TAMassociati)

Ihr seid mit dem italienischen Gesundheitssystem vertraut. Gibt es Empfehlungen für Architekt*innen, die wirklich helfen wollen?

Raul Pantaleo: In einer Notlage ist unsere Rolle wirklich marginal. Das Krankenhaus, das sie in der Messe Mailand eingerichtet haben, ist eine positive Überraschung, jemand dort versteht offensichtlich etwas von Design. Grundsätzlich spielen in diesen Fällen jedoch die Ingenieur*innen die Hauptrolle. Vielleicht sollten wir, angefangen bei den Hochschulen, eine neue Generation von Architekt*innen ausbilden, die in der Lage ist, Teil des Prozesses zu sein. Momentan sind wir das nicht.
Vielleicht ist nicht alles Konsum. Ich denke, wir sollten einen Schritt zurückgehen, stiller sein, vorsichtiger mit dem, was wir sagen, um das Wort Nachhaltigkeit richtig zu verwenden. Denn es meint genau das Gegenteil von dem, was bis heute passiert. Spätestens die nächste Krise wird uns zwingen, in diese Richtung zu gehen; es wird keine Zeit für Marketing geben, keinen Raum mehr für sogenanntes nachhaltiges Design, das doppelt so viel kostet. Die Ressourcen werden weniger sein. Wir sollten vorbereitet sein. Wir selbst sind es, für uns ist das nichts Neues.

Simone Sfriso: Wir müssen zur Idee des Architekten im Dienste der Allgemeinheit zurückkommen. Ich möchte wirklich nicht sagen, dass eine Krise eine Chance ist – ich hasse diese Definition, weil eine Krise nur eine Krise ist –, aber wir müssen lernen, Dinge nach einer Krise besser zu machen. Als Architekt*innen und Designer*innen müssen wir an Projekten arbeiten, die Modelle zur Verringerung des Verbrauchs sind, die weitsichtig und vernünftig mit Materialien umgehen, die angemessen auf den jeweiligen Ort und den sozialen Kontext reagieren. 
Meiner Meinung nach sind wir an einem Punkt, an dem wir eine Verbindung zwischen Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit hinbekommen müssen. 
Raul sprach über unsere Rolle als Architekt*innen. Sie mag marginal sein, doch wir dürfen die wichtige Aufgabe, Schönes zu entwerfen, nicht vergessen. Wir sollten dafür ein passendes Wort finden. Schönheit bedeutet Angemessenheit. Es gibt ein sehr schönes Zitat von Giancarlo De Carlo, der sagte, dass Schönheit der Zweck des Designs sei, doch wirklich wichtig sei der Prozess, der uns erlaube, Schönheit zu produzieren. Wir können Schönheit verstehen im Sinne von Notwendigkeit, Angemessenheit und von adäquaten Antworten auf die Bedürfnisse von Orten und Gemeinschaften.

Aga Khan Krankenhaus, Kisumu, in Planung (Visualisierung © TAMassociati)

Bezogen auf die Arbeit in Afrika gibt es oft die Vorstellung, dass Architekt*innen aus Europa, den Vereinigten Staaten und anderen Teilen der Welt ihr Know-how an Orte bringen, die von Konflikten, Armut, Klimawandel und Ähnlichem betroffen sind. Was habt ihr umgekehrt in Afrika gelernt? Welche Lektionen von dort sind jetzt besonders relevant?

Raul Pantaleo: Als wir 2004 in Afrika zu arbeiten begannen, wollten wir unser Wissen teilen, armen Menschen helfen. Wenn man in einem Kriegsgebiet arbeitet oder im Kontext extremer Armut, hat man sehr wenige Ressourcen. Das Design ist also «chirurgisch», wie wir gerne sagen: Man hat einen Versuch, es muss direkt sitzen. Die Menschen brauchen ein Spital binnen zweier Monate, das Budget ist fix, der Workflow auch und so weiter. Man lernt, wie Kreativität den Unterschied ausmachen kann: Sie bringt Lebendigkeit in ein Projekt und an einen Ort. Diesen «chirurgischen» Ansatz haben wir in unsere tagtägliche Arbeit in Italien eingebracht. Und das war ziemlich erfolgreich! Es macht keinen Unterschied, ob wir ein Krankenhaus in einer Krisenregion bauen, oder ein Büro in Italien oder der Schweiz entwerfen. Es sind stets die gleichen Rahmenbedingungen: begrenzte Ressourcen, begrenzte Zeit. Das ist etwas in dem wir uns über viele Jahre verbessert haben, und wir halten es für den richtigen Ansatz für die Zukunft.

Simone Sfriso: Wir haben sehr viel Glück gehabt. Die Arbeit im globalen Süden war ein Hin und Her, bei dem wir neu gelernt haben, was es heisst, Architekt zu sein. Ich möchte ein Beispiel bringen für das, was Raul gerade sagte: Im Jahr 2004 arbeiteten wir an zwei Projekten. Eines war der Hauptsitz einer Bank in Padua, hier in Italien. Der Bau war als Manifest nachhaltiger Architektur gedacht, wir hatten die Möglichkeit, mit natürlichen Materialien und jeder verfügbaren architektonischen und technischen Innovation zu arbeiten. Gleichzeitig wurden wir gebeten, eine «Herzoperation» in Afrika durchzuführen. In gewisser Weise war das Ziel gleich: ein hochwertiges Gebäude, aber einfach und kostengünstig, sowohl in der Bauphase als auch im Unterhalt. Unter diesen Bedingungen zu arbeiten hat uns gelehrt, Gesten zu reduzieren, Material zu sparen, zum Punkt zu kommen. Es geht immer um grösstmögliche Einfachheit bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines hohen Qualitätsniveaus – im Süden, aber auch hier.

Derzeit wird in den Nachrichten oft betont, wie wichtig öffentliche Räume sind, in denen Menschen sich erholen und austauschen, dabei aber die nötige Distanz wahren können.

Raul Pantaleo: Wir entwerfen jetzt vier Krankenhäuser in Kriegsgebieten: im Jemen, in Uganda, Ruanda und Kenia. Wir haben Erfahrungen gesammelt mit Ebola und jetzt mit COVID-19. Das Hauptproblem ist, sauber von kontaminiert zu trennen. 
Wir denken darüber nach, in Zukunft – es braucht ein Team dafür – grundlegende Gesundheitsrichtlinien und Empfehlungen auszuarbeiten. Sie könnten in Krankenhäusern nützlich sein. Infektiologie und ähnliche Abteilungen waren bereit für COVID-19, doch die Intensivstationen nicht. Die grosse Katastrophe in Italien war, dass Patient*innen dort ankamen und bereits alles kontaminiert hatten, ehe klar war, dass sie das Virus in sich tragen. Jetzt gibt es zwar Triage am Eingang, aber es ist schon zu spät. Es geht nicht darum, Krankenhäuser zu entwerfen, sondern nützliche Informationen bereitzustellen und ihnen konkrete Formen zu geben.

Simone Sfriso: Wir stehen jetzt vor einem Gesundheitsnotfall, aber die nächsten Notfälle werden psychologischer und wirtschaftlicher Natur sein. Mit der Ausgangssperre haben wir die Ausbreitung verlangsamt, aber wir brauchen mehr Prävention, mehr Räume für die Gemeinschaft, mehr Orte, an denen wir eine andere Art von öffentlichem Bewusstsein schaffen können, um die nächsten Krisen zu bewältigen. Das ist eine weitere Aufgabe, mit der wir uns künftig befassen müssen.


Das Interview wurde von John Hill anfangs April 2020 auf Englisch über Skype geführt. Die deutsche Version ist gekürzt und neu editiert.

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