af-z Reihe: Durisch + Nolli Architetti

J. Christoph Bürkle
20. Oktober 2011
Loft, Riva San Vitale (Bild: XXX)

Gerne erinnert man sich an die Zeit, als die neuen Bauimpulse aus dem Tessin kamen. Das ist dreissig Jahre her und die Zeit, als Architekten wie Mario Botta oder Luigi Snozzi von einer neuen Architektur kündeten, die aus dem Kontext entwickelt werden und die Formensprache der «guten» Moderne in die Gegenwart transformieren sollte, scheint längst Vergangenheit zu sein. Als Tendenza ist diese Epoche in die Architekturgeschichte eingegangen, aber neben Einzelprojekten wie der Planung von Monte Carasso und den eleganten, gestreiften Fassaden von Stararchitekt Botta, die Luganos Mondänität unterstreichen, scheint davon nicht viel übrig zu sein.

Der Kanton hat ganz andere Probleme; eine vorausschauende Planung scheint im erdrückende Verkehr zu ersticken und der ungehinderte Bauboom hebt den Gegensatz von Stadt und Land immer weiter auf, lässt eine Diskussion zum Thema Verdichtung beinahe obsolet werden – es ist schon alles verdichtet.
Auch gibt es keinen Kantonsbaumeister, der übergeordnete Planungsleitbilder koordinieren könnte. Eine Hoffnung wäre die Akademie in Mendrisio, mit deren Gründung Mario Botta der Tendenza einen späten Kulminierungsort verschaffte. Von hier aus könnte politisch und planerisch verstärkt eingegriffen werden – bis jetzt kommt jedoch in dieser Hinsicht wenig aus der Tessiner Entwurfsschmiede.

Dennoch gibt es einige Jüngere, die versuchen, die alten Grundsätze weiterzudenken. Zu ihnen gehören Pia Durisch und Aldo Nolli, die schon 2005 mit ihrem Max-Museum in Chiasso auffielen (vgl. archithese 1/2006).

Max-Museum in Chiasso (Bild: Gian Paolo Minelli)

Lektüre des Ortes
Chiasso ist ein Ort, den die meisten nur vom Vorbeifahren oder Schlangestehen an der Grenze kennen, und schon lange ist man hier bemüht, den einstigen Charme des Ortes und dessen Häuser und Stadtpaläste aus der Gründerzeit wiederzubeleben, damit Chiasso nicht nur von der Realität der Industrie- und Handelszonen und der Verkehrswege geprägt wird. Als Beispiel für die Suche nach einer verlorenen kulturellen Identität der Stadt kam der Neubau gerade recht und steht nun für einen ersten Schritt im heterogenen Umfeld.

Das kleine Museum, das mit einem Budget von 2.5 Millionen Franken auskommen musste, steht dem 1936 errichteten Cinema Teatro gegenüber und gibt dessen neoklassizistischer Fassade ein angemessenes und gewichtiges Gegenüber. Getreu der Maxime von Luigi Snozzi, wonach die «Lektüre des Ortes» genauso wichtig ist wie der Bau selbst, konnten Durisch und Nolli einen gezielten  Dialog der Neubauten mit dem Bestand formulieren. Denn – wieder nach Snozzi – ist jeder Neubau auch eine Zerstörung, also «zerstöre mit Verstand.» Die Architekten konnten die Stadt überzeugen, eine ehemalige Einstellhalle zu sanieren, die jetzt als Mehrzweckraum für kulturelle Anlässe dient. Mit dem Vorplatz des Museums, einem Pergola-Weg, der zur benachbarten Schulanlage führt und einem Zederngarten mit Bänken und viel Freiraum, ist eine städtische Anlage entstanden, die wie selbstverständlich die unterschiedlichen Bauten verbindet und den Bewohnern vielfältige kulturelle und freizeitliche Nutzungen bietet. Genau das, was urbanes Leben ausmacht und was Chiasso gefehlt hat.

Das Museum selbst bildet mit seiner durchscheinenden Glashaut aus einfachem Industrieglas den kristallinen Mittelpunkt der Anlage, der besonders nachts das Gelände weithin erleuchtet. Vor dem Eingang schafft die weite Auskragung einen grossen Vorplatz, der durchaus mit Ausstellungen bespielt werden kann. Das lang gestreckte Gebäude ist mit grauen Zementböden, weissen Wänden und seitlichen Lichtbändern funktional, beinahe karg im Sinne des White Cube und entspricht damit den heutigen Anforderungen an einen Museumsbau. In den unter der Erde liegenden Räumen befinden sich der Nachlass und die Stiftung des Grafikers Max Huber neben einem Archiv für Videokunst, während oben wechselnde Ausstellungen über die Bereiche der Gestaltung inszeniert werden.

Strukturmodell des SBV-Ausbildungszentrums

Selbstreferenzielle Form
Nicht weniger eindrücklich zeigt sich das neue Ausbildungszentrum des Schweizerischen Baumeisterverbandes (SBV), das Pia Durisch und Aldo Nolli, einer schwebenden Skulptur gleich, in Gordola platzierten (vgl. archithese 1’2011).

Auch hier ging eine sorgfältige Recherche des Ortes dem Entwurf voraus, was wohl auch den Wettbewerbsentscheid letztlich ausmachte. Der Bauplatz liegt am südlichen Rand von Gordola, wo eine heterogene Ansiedlung von Wohn- und landwirtschaftlichen Bauten, Industriezonen und Wiesen des Schwemmgebietes der Magadinoebene das Bild der weiten Agglomeration prägen. Das ist fast überall am Rande der grossen Ebene so, die ohne eine verbindliche Regionalplanung nicht länger dem Druck der baulichen Verdichtung standhalten wird. Auch das Autobahnteilstück, das hinter dem Gebäude den südlichen Abschluss bildet, wird eines Tages zwischen Bellinzona und Locarno verbunden sein und die Ebene vollends urbanisieren.

Ausbildungszentrum des Schweizerischen Baumeisterverbands (SBV) (Bild: Walter Mair)

Die Architekten stellten das Gebäude auf eine 150 Meter lange Betonplatte auf Stelzen über den Boden, der auch heute noch gelegentlich überschwemmt wird. Da sie gerne in strukturellen Konstruktionen denken und einen Bau als organische Einheit begreifen, gaben sie den unterschiedlichen Werkstätten und Laboratorien eine eindrückliche Gesamtform, die weithin auf sich aufmerksam macht: Wie chromblitzende Zacken eines Sägeblattes ragen die steilen Sheddächer in den Himmel und erzeugen eine selbstreferenzielle Form, die sich gegen die umgebende Bebauung durchsetzt, aber nicht preisgibt, ob es sich um eine Fabrik, ein Schulhaus oder gar um ein Museum handelt.

Entwurf Studentenwohnungen, Luzern (Bild: Architekten)

Modulares Baukastensystem
Zurzeit arbeiten Durisch + Nolli an einer Überbauung für Studentenwohnungen für die Universität Luzern, die 2012 bezugsfertig sind. Für ein Grundstück, das zwischen Wohnquartier und gewerblichen Bauten liegt, entwickelten sie ein modulares Baukastensystem, das sich behutsam in die vorgegebene Struktur einfügt. Dadurch ergeben sich die geforderten 250 Studentenwohnungen für Wohngemeinschaften unterschiedlicher Grösse und Einzelwohnungen mit frei kombinierbaren Zimmern. Ein Raum hat 15 Quadratmeter, und aus diesem Grundraster ergeben sich bei dem doch relativ grossen Bauvolumen schlanke Gebäude, die wiederum eine Referenz an die umliegenden Bürgerhäuser von ähnlichen Ausmassen bilden. Dieses Modulsystem setzt sich in der Tragstruktur und den sich wiederholenden Fassaden aus vorgefertigten, weissen Betonelementen fort. Durch diese Struktur lassen sich einerseits preiswerte Wohnungen erstellen, andererseits können diese leicht umgenutzt oder ergänzt werden, ohne dass sie wie Provisorien wirken.

Mit ihren behutsamen und durchdachten Interventionen führen Pia Durisch und Aldo Nolli die Ideen der Tendenza weiter und generieren so immer wieder überraschende und qualitätvolle Lösungen. So darf man auch gespannt sein auf den in ein altes Schulhaus gesetzten Neubau des Bundesstrafgerichts, den sie mit Bearth & Deplazes in Bellinzona realisieren.

Vorgestelltes Projekt

EBP AG / Lichtarchitektur

Schulanlage Walka Zermatt

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