«Eine Ecke, wo die Welt weit, weit weg ist»

Inge Beckel
28. Februar 2011
Impressionen aus der Siedlung Halen bei Bern, Architekten Atelier 5, Bezugsjahr 1960 (Bilder: ib) 
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

TheoretikerInnen lehren es uns schon lange: Hierzulande geht sekündlich ein Quadratmeter Kulturland verloren. Ergo: Die Siedlungsfläche muss verdichtet werden. Im Jahre 2008 reichten der Schweizer Heimatschutz, Pro Natura, die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz, der VCS und andere Umweltverbände die Landschaftsinitiative ein. Im Ständerat wurde sie behandelt und wird zu wesentlichen Teilen – mittels Gegenvorschlag – gestützt, im Nationalrat ist sie hängig. Die Initiative verlangt mehr Kompetenzen in der Raumplanung von Seite des Bundes, insbesondere aber einen 20jährigen Stopp für die Erweiterung von Bauzonen. Vorerst sind, so die Initianten, die Reserven in den bestehenden Bauzonen sinnvoll zu nutzen. Geht man auf die Homepage der Initiative, findet sich prominent links ein Liveticker (hier), um wieviele Quadratmeter die Siedlungsfläche der Schweiz seit Lancierung der Initiative am 10. Juli 2007 zugenommen hat: Am 24. Februar um 14h21 und 14 Sekunden waren es 98'463'139 Quadratmeter. Zur Erinnerung: Die Gesamtfläche der Schweiz, inklusive der Alpen, misst 41'285 Quadratkilometer.
Just zur gleichen Zeit, am 24. Februar 2011, flatterte die Pressemitteilung «Swisshaus erzielt Rekordumsatz im 2010» in die Mailbox: Der Schweizer Marktführer im Bau von Einfamilienhäusern habe im Vorjahr einen Umsatz von über 120 Millionen Franken erzielt. Die Realität also unterscheidet sich (noch) markant von der Maxime eines haushälterischen, sprich sparsamen Umgangs mit der endlichen Ressource Boden. Anders als es die Riege aus Fachleuten aus Raumplanung und Architektur sowie Vertreter und Vertreterinnen der Politik reklamieren – der Siedlungsteppich wächst und wächst. Im Februar hatte der Schweizer Heimatschutz die Tagung «Einfamilienhäuser, ein Auslaufmodell?» durchgeführt. Dort wiederum prophezeite Fredy Hasenmaile, seines Grades Head Real Estate Analysis bei der CS, die Einfamilienhausquartiere von heute seien die Brachen von morgen. Denn angesichts der Alterspyramide näherten sich die Jahre, in welchen den aus Einfamilienhäusern ausziehenden Haushalten immer weniger junge Familien gegenüberstünden. Besonders in wenig attraktiven, peripheren Regionen werde der Markt über sinkende Preise gekennzeichnet sein, begleitet von Leerständen, ergo Brachen.

Bilder: ib
Respekt gegenüber Kulturerbe und öffentlichen Räumen

Noch – und wieder vermehrt – gelten Immobilien auf dem Kapitalmarkt aber als sichere Anlagen, was dem Grundsatz des haushälterischen Umgangs mit Boden einmal mehr zuwiderläuft. Zudem sind dezentrale Siedlungsformen weiter steuerprivilegiert – ein weiteres Argument, das einem haushälterischen Umgang mit Boden widerspricht und diesen in der Realität massiv schwächt. Nichtsdestotrotz gilt es, die Siedlungsflächen zu verdichten. Aber wie? Denn bauliche Verdichtungen dürfen das baukulturelle Erbe unserer über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte gewachsenen Dörfer und Städte nicht zerstören, wie an der erwähnten Heimatschutz-Tagung von Seiten des Publikums wie von Geschäftsleiter Adrian Schmid richtigerweise gefordert. Hier sind Städtebauer und Architektinnen gefragt, auch Kunsthistorikerinnen und -historiker, die Inventare schützenswerter Bauten und Ensembles erarbeiten, die es nachher von Seiten der Planenden, der Bauträgerschaften wie der Behörden und Politiker zu respektieren und anzuwenden gilt.
Zwei weitere Aspekte dürfen nicht vergessen werden. Erstens, seit 1950 nimmt die Bevölkerung der Schweiz alle zehn Jahre um eine halbe Million Menschen zu, und zweitens, der Flächenverbrauch pro Person hat sich in derselben Zeitspanne verdoppelt, so erinnerte Christian Schmid von der ETH an derselben SHS-Tagung. Bauliches Verdichten bei gleichzeitig weiterhin steigendem Flächenkonsum pro Einwohner und Einwohnerin führt nur bedingt zum Ziel. Wir Menschen müssen wieder lernen, unsere Wohnräume nicht allein nach ihrer schieren Grösse, also nach quantitativen Kriterien, sondern nach ihren räumlichen Qualitäten zu beurteilen und damit wertzuschätzen. Grosse Wohnungen sind nicht per se besser als kleinere. Wichtig ist überdies auch, öffentliche Räume sowie öffentliche Einrichtungen in Quartieren und Dörfern zu schaffen und die bestehenden laufend zu pflegen. Denn gelten öffentlichen Räumen – ob geschlossenen oder jenen unter freiem Himmel – die nötige Aufmerksamkeit, Sorgfalt und damit ein Wille zu Qualität, laden sie uns eher zum Verweilen ein. Wir halten uns während der Freizeit öfter darin auf, hüten Kinder, lesen Zeitung, treffen Freunde.

Bilder: ib
Rückzugsmöglichkeiten oder der Schutz der Privatsphäre

Ein gutes Angebot an öffentlichen Räumen und Gemeinschaftseinrichtungen dürfte in der Tendenz das Bedürfnis nach viel (mehr) Platz in den eigenen vier Wänden sinken lassen. Wie gross oder klein eine Wohnung oder ein Haus aber auch sein mag, wichtig ist, dass es in ihr oder ihm Nischen, Ecken oder Winkel gibt, die von aussen her nicht einsehbar sind und wohin man sich bei Bedarf zurückziehen kann. Gerade jene heute weit verbreiteten, durchaus repräsentativen, aber fast rundum verglasten Wohnungen lassen ihre Bewohnerinnen und Bewohner oft mehr als Schaustellende denn Privatmenschen erscheinen. Schon in den 1940er-Jahren meinte ein Architekt angesichts grossflächig verglaster Häuser kritisch: «Wer die Möglichkeit hat, ein nach aussen vollständig umgestülptes Haus zu bewohnen, kann die Folgen solcher Einseitigkeit und Übertreibungen am eigenen Leibe leicht erfahren. Dann wird man gewahr, dass einem das ewige Zwiegespräch mit der Aussenwelt, einem immer gleichbleibenden splendiden und anspruchsvollen Alpen- und Seepanorama in gewissen Wetterlagen und Seelenstimmungen geradezu furchtbar auf die Nerven gehen kann.» (Bauen + Wohnen, 1/1947)
Werden Quartiere und Dörfer dichter und rücken die Menschen wirklich näher zusammen, muss dem Schutz der – räumlichen – Privatsphäre ebenfalls erhöhte Aufmerksamkeit gelten. Das Beispiel der etwas in Vergessenheit geratenen, schon vor über 50 Jahren vom Atelier 5 erstellten Siedlung Halen in Herrenschwanden bei Bern zeigt, wie Dichte und Privatheit wunderbar kombiniert werden können. Bei einer Ausnützungsziffer von 0,6 ist der persönliche Rückzug ins eigene Reihenhaus jederzeit möglich. Drinnen ist die Dorfgemeinschaft weit weg. Denn – auch ohne Vorhänge – sieht weder der Nachbar noch das auf dem Dorfplatz ein Feierabend-Bier trinkende Grüppchen in die einzelnen Häuser hinein: Eine geschlossene Wand markiert den Übergang von der Allgemeinheit ins Private; nach Passieren dieser Wand betritt man eine Vorzone, über die man ins eigentliche Wohnhaus gelangt. Auch die privaten Gärten trennen untereinander raumhohe Wände; die Balkone sind so gefasst, dass man morgens – noch im Pyjama – nicht gleich in einen Schwatz mit der Nachbarin einschwenken muss. Verdichtete Siedlungen erfordern Wohnungen und Bauten, die dem einzelnen Menschen, wenn nötig, eine Ecke bereithalten, von wo die Welt weit, weit weg ist …

Bilder: ib

Vorgestelltes Projekt

TK Architekten

Revitalisierung Shopping Center «Serfontana»

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