Pendeln und Raumentwicklung

Juho Nyberg
24. März 2011
Daily business? (Bild: meinauto.de) 

Zu Beginn dieses Jahres rechnete der deutsche Journalist Burkhard Strassmann in seinem Artikel «Ich Kilometermillionär» in der Zeit vor, dass er zum Ende seines Lebens insgesamt 380 Tage für seinen Arbeitsweg aufgewendet haben wird. Und obwohl er sich fürs umweltfreundliche Bahnfahren entschieden hat, wird er nur für seinen Arbeitsweg insgesamt 28'000 Kilogramm CO2 verbraucht haben!
Mit solchen Bilanzen steht Strassmann bei weitem nicht alleine da: Bei gut anderthalb Millionen Pendlern in Deutschland ist das Entstehen einer Debatte über die steuerliche Abzugsfähigkeit der Reisekosten nur eine Frage der Zeit.
Auch in der Schweiz äusserte im Januar dieses Jahres Bundesrätin Doris Leuthard die Absicht, inskünftig die Verkehrsinfrastruktur durch höhere Billetpreise, weniger steuerliche Abzüge und Erhöhung der Mineralölsteuer zu finanzieren. Die Antwort der Arbeitgeber- und -nehmerverbände liess nicht lange auf sich warten: Man warf der Bundesrätin eine wirtschaftsfeindliche Haltung vor. Dabei lassen sich die Zustände auf dem Schweizer Strassen- und Schienennetz an jedem beliebigen Tag besichtigen, ja selbst die Staumeldungen im Radio könnte man getrost ab Band abspielen.

Warum in die Ferne schweifen?

Gründe und Motive für einen langen Arbeitsweg gibt es je nach Standpunkt verschiedene. So ist nach Arbeitsgesetz ein Arbeitsweg von bis zu zwei Stunden «zumutbar», muss theoretisch also ein Stadtzürcher eine Stelle in Fribourg annehmen. Dazu kommen steuerliche Erleichterungen, Abzüge für Abonnements oder das Auto. Weiter darf vermutet werden, dass der Wunsch nach dem Wohnen im Grünen ebenfalls eine erhebliche Rolle spielt, insbesondere der Wunsch nach einem Einfamilienhaus – wohl, um endlich all die vielen Menschen ein wenig von sich fern zu halten. Dafür nimmt man dann den weiten Weg in Kauf. Von allen im Jahre 2009 erstellten Gebäuden mit Wohnungen waren fast 65% Einfamilienhäuser. Davon stehen wohl die wenigsten in der Stadt. Dass manche Regionen für solche Wohn- und Lebensformen Werbung machen, wie etwa der Kanton Thurgau in Zürich, sollte zu denken geben.
So schön auch das Eigenheim im Grünen ist, fordert das Pendeln doch auch auf anderen Ebenen seinen Tribut. So erforscht der Soziologe Norbert Schneider im Artikel der Zeit die sozialen Kosten der Mobilität und den Einfluss auf die Gesundheit. Und er kommt zum Ergebnis, dass Pendler Stress erfahren durch Situationen wie überfüllte Züge oder den Zeitdruck, einen bestimmten Zug erwischen zu müssen. Auch können soziale Kontakte des Pendlers leiden: Während der Kollege in Bern bereits mit seinen Freunden beim Feierabendbier sitzt, ist der Pendler noch im Zug nach Hause.

Pendlersaldo: Die roten Punkte markieren die «positiven» Saldi (Bild: admin.ch) 

Im Dokument «Pendlerverkehr – Neue Definition der Agglomerationen» des Bundesamtes für Statistik vom 15.5.2003 werden auf der Basis der Volkszählung von 2000 einige wichtige Entwicklungen festgehalten (Details hier). Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass die Entwicklung des sogenannten Pendlersaldos – also des Verhältnisses von Zu- und Wegpendlern – einerseits nur in sechs Kantonen positiv ist (es also gewissermassen einen Arbeitsplatzüberschuss gibt) und andererseits eben diese sechs Kantone ihre Bilanzen in den letzten Jahrzehnten noch ausgebaut haben. Entwicklungen finden also in Ballungsräumen statt. Aus eben jenen sind die Menschen aber ständig auf der Flucht, sei es aus finanziellen Gründen – teurer Wohnraum – oder emotionalen – ein Haus im Grünen.
An der selben Stelle kommt das Bundesamt für Raumentwicklung in der Analyse zur Erkenntnis, dass die «Notwendigkeit einer Agglomerationspolitik» besteht und der Bund mit einer «gezielten Anreizpolitik» innovative Projekte fördern will. Dass dabei die Verkehrsplanung eine wichtige Rolle spielt, liegt auf der Hand. Doch die Siedlungsentwicklung ist dabei ebenso eine treibende Kraft.
Ein solch innovatives Projekt ist der Vorstoss der Architektengruppe «Krokodil». Als Beispiel für neue Wege kann etwa ihre Idee des Abtausches von Bau- gegen Freihaltezonen dienen. Nicht nur, weil damit sinnvoll Gebiete strukturiert werden können, sondern auch, weil solche Instrumente das Bewusstsein schärfen, dass die Probleme der Zukunft nicht mit klassischem Gärtchendenken auf Gemeindeebene gelöst werden können. Diese müssen als überregionale Aufgabe gedacht werden, so wie es etwa die Wakkerpreisträger 2011 der Gemeinden Ouest Lausannois als Beispiel für Zusammenarbeit zwischen Gemeinden, oder die Gemeinde Fläsch als Wakkerpreisträger 2010 für ihre innovative Ortsplanung zeigen. Ebenso lassen sich die anstehenden Probleme nur dann lösen, wenn sich auch der und die Einzelne als Mitglied unserer Gesellschaft versteht, deren Verantwortung nicht abends mit der Mappe in der Garderobe abgelegt werden und vor der man sich nicht hinter hohen Hecken verstecken kann. Um dem vielzitierten Siedlungsbrei entgegenzuwirken, sind in diesem Sinn auch individuelle Kompromisse einzugehen, etwa der Entscheid zugunsten einer sinnvollen Wohnform oder die Wahl des Arbeitsortes nach anderen als nur rein ökonomischen Kriterien – dabei kann ja ein «Mehrwert» an anderer Stelle herausschauen, und sei es nur ein Bier unter Freunden.

Vorgestelltes Projekt

EBP AG / Lichtarchitektur

Schulanlage Walka Zermatt

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