Raumplanung mit Bauklötzen

Michael Hanak
2. Dezember 2010
 Christof Hirtler/Kornhausforum

Aus der Geschichte der Raumplanung kann man vieles lernen. Der Journalist Jürg Spichiger hat sich der allgemeinen baulichen Entwicklung in der Schweiz angenommen und mit viel Engagement eine Ausstellung zusammengestellt, in welcher die gegenwärtige Besiedlung ebenso thematisiert wird wie seine Geschichte und Geschichten, seit von Raumplanung überhaupt die Rede sein kann. Nach einer ersten Station im Naturama Aarau ist die Schau nun im Kornhaus Bern zu sehen, das sich als Plattform für Gestaltung und Gesellschaftspolitik versteht. Beim Verlassen der lobenswerten Ausstellung – soviel sei vorweg genommen – bleibt der äusserst positive Gesamteindruck ob der wertvollen Informationen und spannenden Aspekte durch eine gewisse Ratlosigkeit getrübt: Was war gleich die neue Erkenntnis?

Fakten: Steigender Landverbrauch

Vom Boden- bis zum Genfersee sind wir daran, unser Land zuzubauen. Gänzlich unbesiedelte Gebiete gibt es im Mittelland fast keine mehr. Aber auch in Alpentälern, in den Voralpen und zum Teil im Jura ist die «urbane Durchdringung» stark angestiegen. Die Schweiz ist bald ein einziger urbaner Siedlungsraum. Unser Landverbrauch ist riesig: 50 Quadratmeter beansprucht heute jede einzelne Person zum Wohnen. Arbeit und Freizeit benötigen ebenfalls immer mehr Raum. Ein Quadratmeter Boden wird pro Sekunde zugebaut.
Mobilität und Globalisierung sind die gängigen Stichworte, mit denen die gesellschaftlichen Hintergründe erklärt werden. Doch was genau ist damit gemeint? Eindrücklich zeigt beispielsweise die Schweizerkarte, auf der die Distanzen gemäss den Reisezeiten dargestellt sind: Zwischen 1950 und 2000 ist die Schweiz deutlich «geschrumpft»! Dank den Nationalstrassen ist das ganze Land, abgesehen von den peripheren Alpentälern, zusammengerückt. Die Schweiz verfügt über das weltweit dichteste Autobahn- und Schienennetz. Die erhöhte Mobilität hat unsere Lebenskonzepte verändert: Wohnen auf dem Land, Arbeiten in der Stadt, Freizeit in der Natur – dies lässt sich vorteilhaft kombinieren. Flexibilität ist eine Forderung der Globalisierung.
Die Gegensätze zwischen Stadt und Land lösen sich zunehmend auf. Als ländlich galten im Jahr 2000 zwei Drittel der Gemeinden, dort lebt aber nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung. In den Tourismusregionen wird das Bild der Ländlichkeit gefördert und inszeniert. Dahingegen gelten die städtischen Zentren zum Wohnen wieder als beliebt. Doch 30 Prozent der neuen Wohnungen werden in Form von Einfamilienhäusern gebaut. «Eine Mischung aus Wohlstand, Sehnsüchten und Unabhängigkeitsdrang», so heisst es auf einer Ausstellungstafel, «fördert bei vielen den Wunsch nach einem Eigenheim».

 Michael Hanak
Aussagen: Agglo ist ugly?

Die Entwicklungslinien der Siedlungsplanung erzählen spannende Geschichten. Als die Raumplanung zur Profession wurde, ereigneten sich aufsehenerregende Geschehnisse. Achtung: die Schweiz schrieb Max Frisch 1955 und löste eine öffentliche Diskussion über zeitgemässe Lebensformen aus. An der ETH Zürich wurde daraufhin eine modellhafte neue Stadt im Furttal geplant. Den «American Way of Life» übernahm zum Beispiel ansatzweise die Satellitenstadt Tscharnergut in Bern mit aufgereihten Scheibenhochhäusern.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte eine Bautätigkeit eingesetzt, die alles Bisherige in den Schatten stellte. Die zwischen 1945 und 1980 erstellten Bauten machen heute den grössten Anteil des gesamten Gebäudebestandes aus. Ein Siedlungsteppich aus Einfamilienhäusern, Wohnsiedlungen, Industriekomplexen, Gewerbeparks, Sporthallen und dergleichen belegt weite Teile der Schweiz. Und die Zersiedlung schreitet weiter voran – diese Botschaft ist wohl bei allen angekommen. Auch zur Zersiedlung gibt es in der Ausstellung eine grafische Darstellung auf der Landeskarte: Die meisten «Durchsiedlungseinheiten pro Quadratkilometer» weist das Schweizer Mittelland auf.
Der Wohlstand ermöglicht immer mehr Menschen Wohneigentum, das in der Regel an Siedlungsrändern realisiert wird. Gegenwärtig wohnt die Hälfte der Schweizer in Agglomerationsgebieten, obwohl der Ausspruch «Agglo ist ugly» die Runde macht. Doch besitzen nicht gerade die Agglomerationen ihre eigenen Geschichten und visuellen Identitäten?
Verdichtetes Bauen ist eine Forderung der Planer, die sich in der Schweiz noch nicht wirklich durchgesetzt hat. Seit 1969 ist die Raumplanung in der Bundesverfassung verankert. In der Praxis aber scheitert sie immer wieder an der Autonomie der Gemeinden, der Spekulation oder an Vorstellungen vom Wohnen im Grünen, die in krassem Widerspruch zur realen Siedlungsstruktur stehen. Raumplanung ist ein Instrument gegen die willkürliche Bautätigkeit. Doch Raumplanung sollte auch mehr räumliche Gestaltung bewirken.

 Michael Hanak
Präsentation: Spielerische Anregungen

Die Ausstellung «Stadt vor Augen – Landschaft im Kopf» dokumentiert. Mit Hilfe unterschiedlicher Medien wird die Zersiedlung unseres Landes veranschaulicht. Vor allem exquisite Fotos und Filme, aber auch auflockernde Hör- und Musikstücke und freilich Texte erzeugen einen vielfältigen, differenzierten Eindruck. Aussagen und Darstellungen sind gut verständlich und richten sich nicht (nur) an ein Fachpublikum, sondern an alle. Um Einfachheit bemüht, sind die Exponate spielerisch auf «Bauklötze» verteilt. Scheint die Gliederung in bewältigbare Happen auch sinnvoll, wirkt deren Anordnung aber so chaotisch wie die Planungsrealität selbst.
Fazit: Die Ausstellung regt zur Debatte über die Schweiz der Zukunft an. Sie ist damit ein weiterer Baustein in der Auseinandersetzung mit Raumplanung, Besiedlung und Freiräumen, welche aktuell geführt wird. In den Medien ist das Thema allgegenwärtig: Die Zeitschrift Werk, Bauen + Wohnen widmete ihre letzten Ausgaben den Themen «Landschaft und Vorstadt». Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Heimatschutz dreht sich um die Landschaftsinitiative. Und kürzlich meldete die NZZ, dass ein fotografisches Archiv zur Raumentwicklung zahlreiche Fotos abrufbar macht, die den Wandel unserer Landschafts- und Siedlungsräume veranschaulichen.
Zur Beantwortung der Frage, was wir gegen die Zersiedlung und den Landschaftsverbrauch tun können, lohnt sich jeder Blick in die Geschichte der Raumplanung. Wenn auch die Ausstellung in Bern wenig neue Erkenntnisse birgt, so vermittelt sie doch einem breiten Publikum anregende Einsichten – noch bis zum 19. Dezember.

Vorgestelltes Projekt

TK Architekten

Revitalisierung Shopping Center «Serfontana»

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