Schaufenster – eine gestalterische Herausforderung

Manuel Pestalozzi
1. Oktober 2015
Ecke Stampfenbachstrasse/Kinkelstrasse, Zürich, März 2015. Bild: Manuel Pestalozzi

In orientalischen Basars ist das Sehen und das Berühren von Gegenständen noch selbstverständlich. Die abendländische Stadt des 19. Und 20. Jahrhunderts schob Glasscheiben zwischen die Augen der Betrachtenden und den betrachteten Objekten am Wegrand. Das Licht und die Spiegelungen dienten als visuelle Gestaltungsmittel für phantasievolle Inszenierungen, die Schaufensterdekoration wurde zu einem vollwertigen Metier mit einer Berufslehre, die berühmten Gestaltenden wie zum Beispiel Jean Tinguely zum Einstieg in die Welt der bildenden Kunst verhalfen. Das Schaufenster ist ein Kulturgut jener Zeit. Der Philosoph Walter Benjamin widmete ihm Schriften, der Maler Edward Hopper thematisierte die urbanen Welten hinter Glas.

Edward Hopper, Nighthawks, 1942, Art Institute of Chicago, Chicago, IL. Bild: Public Domain

Das Schaufenster wurde zur gängigen Sockellösung der Städte der Gründerzeit. In den Zentren konnten die grossen und kleineren Geschäfte ihre Waren darbieten, Gastronomiebetriebe hatten die Gelegenheit, Sehnsüchte nach Verköstigungen zu wecken, Finanzinstituten blieb immerhin die Option, aktuelle Börsenkurse auszuhängen. Doch nicht nur dort, wo die Stadt brodelte und kochte, wurden grosse Öffnungen in die Erdgeschosse eingeplant, auch in den neuen Quartieren erkannte man einen grossen Bedarf an Schaufenstern. Individuelle Fahrzeuge waren das Privileg weniger, der alltägliche Einkauf wurde im Laden um die Ecke getätigt, und auch Handwerksbetriebe, insbesondere für Bekleidung, Schuhwerk oder Schmuck, richteten sich gerne direkt an der Strasse hinter Glas ein.
 
Grosse Scheiben, die den Strassenraum begrenzen, wecken die Aufmerksamkeit von Leuten, die zu Fuss unterwegs sind und jederzeit die Möglichkeit haben, einen Stopp einzulegen. Als Fenster versorgen sie die dahinter liegenden Räume mit Tageslicht, als Schaubühne bespielen sie den Strassenraum. Es haben sich grundsätzlich drei Typen etabliert. Der totale Durchblick macht den dahinterliegenden Raum zur Bühne und weist zum Teil eine Vordergrunddekoration auf. Der halbe Durchblick operiert mit einem Proszenium mit Objekten und Botschaften, lässt das Geschehen dahinter aber immer noch teilweise erkennen. Der verschleierte Durchblick ist ganz Proszenium, die Aufmerksamkeit der Passantinnen und Passanten gilt ausschliesslich den Exponaten und Botschaften, was auf der «Hinterbühne» geschieht, entzieht sich ihren Blicken. Für jeden dieser Typen gibt es spezifische Kunstlichtkonzepte für eine ansprechende Wirkung nach Einbruch der Dämmerung.

Edward Hopper, Drug Store, 1927, Museum of Fine Arts, Boston, MA. Bild: wikiart.org

Mit der Moderne nahm im Laufe des 20. Jahrhunderts der Glasanteil der Fassaden generell zu. Auch die Schaufenster profitierten davon. Sie entwickelten sie in die dritte Dimension und wurden zu eigentlichen Glaskörpern und -kästen, mit grossen, teilweise auch gekrümmten Scheiben. Eingangsbereiche entwickelten sich zu regelrechten Mini-Passagen, in denen man das ausgestellte Gut aus mehreren Blickwinkeln betrachten kann. Die Abkehr von der rein frontalen Präsentation verlangt von jenen, welche für die Inhalte zuständig sind, einiges ab.
 
Die vergangenen Jahrzehnte erlebten eine fortschreitende Degenerierung der Schaufenster-Kultur (wenn man sie so nennen will). Zuerst nahm der Anteil des Typs verschleierter Durchblick zu – und oft bietet er im Proszenium leider ausser einem gezogenen Vorhang nichts. Dann begann man, das Glas mit Folien zu überkleben. Schaufenster erblindeten vollends und machten Erdgeschosse zu einer abweisenden «Black Box». Glasscheiben werden zu Träger zweidimensionaler Werbeaufschriften. In Zürich trifft man sogar Schaufenster an, die an die Allgemeine Plakatgesellschaft vermietet wurden und im «Rollingstar»-Modus wechselnde Poster darbieten. Das kann zwar auf den ersten Blick geheimnisvoll erscheinen und die Spannung auf das dahinter liegende steigern. Für den Strassenraum ist diese abweisende Haltung des Sockelgeschosses aber eine klare Abwertung. Der Bezug zwischen dem Gehsteig und dem Innern der Häuser bestimmt ganz wesentlich die Befindlichkeit der Passantinnen und Passanten.

Universitätsstrasse, Zürich, März 2015. Bild: Manuel Pestalozzi

Schuld am Niedergang des Schaufensters ist sicher das Auto. Hinter dem Steuer hat man weder Zeit noch Musse, um in ein Schaufenster zu gucken. Das Tempo beschleunigt sich, die zurückgelegten Wegstrecken werden länger. Wer hat da überhaupt noch Gelegenheit oder 
Lust, Auslagen zu betrachten oder Kleineinkäufe zu tätigen? Dieser Wandel im Alltagsverhalten hat besonders in den Wohnquartieren negative Folgen. Viele Läden und Gewerbeflächen lassen sich nicht mehr wie einst beabsichtigt nutzen, die grossen Fensterflächen geben Einblick in brach liegende Räume und Abstellkammern. Oft geniert diese Trostlosigkeit, es erfolgt die Verschleierung oder Erblindung als Verlegenheitslösung. Die ist umso bedauerlicher, weil viele dieser Glasflächen an exponierten Stellen im Stadtgefüge angeordnet sind, an Strassenverzeweigungen oder anderen Orten, die eigentlich zahlreiche Passantinnen und Passanten erwarten lassen.
 

Ottikerstrasse, Zürich, März 2015. Bild: Manuel Pestalozzi

Man muss sich aber auch eingestehen, dass die Gestaltung und der Unterhalt eines Schaufensters eine aufwendige Angelegenheit ist. Wer nicht eine Apotheke betreibt und von den Lieferanten Papp-Sujets zugeschickt erhält, muss ein eigenständiges Spiel-Programm auf die Beine stellen und mit der Zeit oder der Saison gehen. Eine eindrückliche Leistung erbringt diesbezüglich die Innenarchitektin Jacqueline Rondelli. An der Stampfenbachstrasse in Zürich-Unterstrass, bei der Haltestelle Kronenstrasse, inszeniert sie mit dem Label «die Innenarchitektin» seit Jahren ein ganzes Ladenlokal als Schaufenster. Regelmässig wird der Aufbau nach einem schlüssigen Gesamtkonzept mit neuen Objekten und Gegenständen umgebaut, die Neugier der Passantinnen und Passanten hat gar keine Gelegenheit zu ermatten.

Sumatrastrasse, Zürich, März 2015. Bild: Manuel Pestalozzi

Leider sind aktuelle Schaufenstergestaltungen häufig Verlegenheitslösungen, die im besten Fall mit geschmackvollen, pflegeleichten Immergrünbepflanzungen im Gartenbau zu vergleichen sind. Sie haben weder einen Bezug zum Strassenraum noch machen sie überzeugend Werbung für das «Dahinterliegende». Auch elegante Vorhänge und eine Designerleuchte vor einem Pilates-Heilstudio oder eine Kunstinstallation in einem leeren Ladenlokal, das zum Foyer eines Dentalmediziners unfunktioniert wurde, heben die Qualität des Aussenraums wenig.

Spyriplatz, Zürich, März 2015. Bild: Manuel Pestalozzi

Zu den «Sündern» gehören auch Architektinnen und Architekten. Denn sie lassen sich in unseren Tagen gerne in ausrangierten Lokalen mit Schaufenstern nieder. Leider beschränken sie sich in Sachen Dekoration meistens auf ein paar Visualisierungen und Gipsmodelle. Die Visualisierungen verbleichen schnell, die Modelle sammeln Staub. Neugierige Laien werden sich dadurch wohl kaum für baukünstlerische Belange begeistern lassen.

Ecke Culmannstrasse/Nelkenstrasse, Zürich, September 2015. Bild: Manuel Pestalozzi

Fakt ist, dass Stadtquartiere heute mit einem beachtlichen Bestand an Schaufensterbrachen konfrontiert sind. Hinter vielen Glasfronten tut sich nichts oder etwas Verschämt-Zufälliges. Der Ästhetik des Strassenbilds ist dies abträglich, die Aufenthaltsqualität für Passantinnen und Passanten nimmt dadurch ab. Viele Gelegenheiten für Inszenierungen bleiben ungenutzt. Es wäre toll, wenn Gestaltende oder auch Marketingfachleute Schaufensterbrachen neu entdeckten. Strassenkunst hinter Glas, mit Stromanschluss für Lichtquellen, da lässt man sich doch nicht zweimal bitten! Auch Städte und Gemeinden sollten sich zu einem koordinierenden Effort durchringen können. Wenn man schon einen Plan Lumière für die öffentliche Beleuchtung auf die Beine stellen kann, weshalb dann nicht auch einen Plan Vitrine?

Walchestrasse, Zürich, September 2015. Bild: Manuel Pestalozzi

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