Sicherheit und Wahnsinn

Manuel Pestalozzi
12. November 2015
Es hätte kein Durchkommen geben sollen. Fort de Fermont, Ligne Maginot bei Longuyon, Frankreich. Bild : Guido Radig

Eine kurze Vorbemerkung sei erlaubt: Schon seit Jahren wollte der Verfasser für Architektinnen und Architekten einen Aufsatz mit diesem Titel schreiben. Die aktuellen Ereignisse in Südosteuropa, die eidgenössischen Parlamentswahlen, das kürzlich erschienene Essay des umstrittenen Leitsterns am einheimischen Literatenhimmel waren, obschon sie die Kombination Sicherheit und Wahnsinn ins Rampenlicht rückten, nicht Anlass dazu.
 
Wenig geht ohne sie; das Bedürfnis nach Sicherheit gehört zu den urtümlichsten Antriebskräften der Menschheit. Architektur ist unter anderem der Versuch, dieses Bedürfnis zu stillen. Leider gelingt dies nie ganz. Vielleicht sollte man froh darüber sein, möglicherweise würde dann der Antrieb erlahmen. Der Grund für die mangelhafte Erfüllung liegt oft nicht in der Katastrophe, die trotz aller getroffenen Massnahmen eintritt, sondern im nicht nachlassenden Gefühl, dass sie noch kommen könnte. Und das ist der Punkt, an dem sich der Wahnsinn einnistet.

Nach dem verheerenden Feuer von 1861 wurde Glarus vom Dorf zur Rasterstadt. Bild: ETH-Bibliothek

Eigentlich ist es eine Sache der Vernunft: Will man Sicherheit, so sollte man wissen, wovor. Man muss sich eine Vorstellung davon machen, was geschehen könnte, entweder aufgrund eigener Erfahrungen oder weil andere davor warnen. Dies ist meistens nur möglich, wenn jemand zuerst ein Wagnis unternimmt. So gesehen ist die Evolution der Menschheit angewiesen auf scheiternde Pioniere. Vitruv erhob die Firmitas zum ersten Erfordernis seiner Triade, und niemand weiss, wie viele Mauern, Gewölbe und Dachstühle zusammengekracht sind, bevor es die Leute in den Griff kriegten.
 
Es ist schrecklich, aber oft bewirken Unfälle und Katastrophen einen Entwicklungsschub. Im Gedanken an eine Tragödie wird die Zukunft mit mehr Sorgfalt und oft auch systematischer geplant. Dieser Bezug von Ursache und Wirkung kam der Architektur und dem Städtebau wiederholt zugute. Erdbeben und Brände bestimmten massgeblich die Entwicklung von London, Lissabon, Chicago oder Glarus. Und nicht selten übernahmen auch unversehrte Regionen die neuen Konstruktionsmethoden und Regelwerke. Unglücke erwiesen sich für die Entwicklung von Zivilisationen als nachhaltiger Gewinn.

Erdbebensicherheit als Formgeberin. Kirche von San Francisco de Chiu Chiu in Chile aus dem 17. Jahrhundert. Foto: Rolando Canessa

Von alten Kirchen in erdbebengefährdeten Gegenden Lateinamerikas erzählt man sich, dass sie mit jedem Einsturz massiver gebaut wurden. Dadurch entstand eine «Sicherheitsarchitektur», die zwar nicht besonders ökonomisch ist. Sie verfügt aber über unübersehbare ästhetische Reize und stellt eine Solidität zur Schau, die von den Betrachtenden direkt mit zuverlässigem Schutz assoziiert wird. Dieser Aspekt der Architektur wird heute vielleicht etwas unterschätzt.
 
Zeichenhafte Sicherheit verheisst das Einhalten von Versprechen und gibt unter Umständen gleichzeitig Anweisungen zum korrekten Verhalten, sollte das Schreckensszenario plötzlich Realität werden. So zeichnen die eisernen Feuertreppen, die in amerikanischen Städten an Fassaden gehängt werden, den Fluchtweg vor. Doch hier findet erstmals eine Vermischung von Pragmatik und Wahnsinn statt, denn die Massnahme gemahnt mit ihrer dramatischen Präsenz stets an ein drohendes Unheil. Gleichzeitig weckt sie die Furcht, dass ungebetene Gäste diese Additionen in der Gegenrichtung für das unbefugte Eindringen nutzen könnten.

Programmierte Flucht aus der Architektur-Ikone als sichtbares Sicherheits-Gütesiegel: das Monadnock Building aus dem späten 19. Jahrhundert mit angehängten Feuertreppen, Chicago, USA. Bild: David Silverman (http://flickr.com/people/39978256@N05)

Die Vernunft ist auf der Kippe. Das Schutzbedürfnis verschiebt sich von der Zuverlässigkeit des Bauwerks, der man offenbar nicht absolut traut, auf seine Durchlässigkeit – und durchlässig ist quasi ein Synonym von unsicher. Gefahr droht nicht mehr von passiven Strukturen oder Naturereignissen, sondern vom Menschen selbst, insbesondere von seiner potenziellen Boshaftigkeit den Artgenossinnen und -genossen gegenüber. Und Menschen sind so beschaffen, dass sie als Sicherheitsrisiko wahrscheinlicher und in ihrer Wirkung als solches weniger berechenbar sind als Feuersbrünste, Tsunamis, Bergstürze oder Lawinen.
 
Das Thema Durchlässigkeit mit all seinen Widersprüchen ist die ewige, wahnsinnig machende Knacknuss von Baufachleuten und den Verantwortlichen der Stadtplanung. Selektiv freizugebende Sperren und Fluchtwege prägen die Architektur seit Jahrtausenden. Die europäische Stadt des Mittelalters und mithin ihre Dichte wären ohne sie gar nicht denkbar. Von der Renaissance bis zu den Zeiten Napoleons war der Festungsbau eine Kunst, deren Stellenwert in vielem dem Sakral- und dem gehobenen Profanbau ebenbürtig war. Genies wie Leonardo da Vinci suchten nach geeigneten Formen des gebauten Durchlässigkeitskontrolle.

Town Branding in der Renaissance. Palmanova, Festungsstadt der Republik Venedig aus dem späten 16. Jahrhundert, ist mit ihrem Bastionsstern ihr eigenes Signet. Vedute aus Civitates Orbis Terrarum von Georg Braun und Frans Hogenberg. Bild: commons.wikimedia.org

Die meisten Festungsanlagen haben einen unverkennbaren ästhetischen Reiz – und oft wurden sie gar nie auf die Probe gestellt. Man weiss häufig nicht, ob und wie sie funktioniert hätten – und das ist ein grosses Problem für jedes Sicherheitskonzept, auch wenn es auf empirischen Kenntnissen beruht. Die Ernstfalltauglichkeit erweist sich erst im Ernstfall – von dem man hofft, dass er nie eintritt.
 
Ein weiteres Problem mit der kontrollierten Durchlässigkeit zeigte die Festungsarchitektur im städtischen Massstab deutlich auf: Sicherheit engt ein. Ab dem 19. Jahrhundert wollten sich alle Städte ausdehnen. Der Schutz durch Schanzen wurde weniger wichtig als die Erweiterung ausserhalb der Anlagen. Dass dies für die städtebauliche Entwicklung auch Chancen bot, ist hinreichend bekannt.

Keiner soll unbefugt rein. Gebaute Sicherheits-Ikone des 20. Jahrhunderts Nr. 1: Goldbarrendeponie Fort Knox in den USA. Bild: whitewraithe.wordpress.com

Nach dem weitgehenden Schleifen von Befestigungsanlagen war bis zum Aufkommen der «Gated Communities» war gebaute Sicherheit jenseits der Firmitas und des Brandschutzes, die staatlich kontrolliert sind, Sache der individuellen Eigentümerinnen und Eigentümer der Liegenschaften. In Zürich war es bis in die 1950er Jahre üblich, in Mehrfamilienhäusern die Briefkästen im Entrée anzuordnen. In den 1990er Jahren forderte die Post ultimativ eine Nachrüstung vor der Haustür.
 
Eine letzte Phase des gebauten Durchlässigkeitsschutzes waren Befestigungs- und Bunkeranlagen. Ihre Wirksamkeit erwies sich insgesamt als ähnlich schwach und vage wie jene der Bastionen und Schanzen. Besonders grotesk ist das Scheitern der Maginotlinie, die Frankreich gegen Einfälle von Osten hätte schützen sollen. Der Staat investierte bis in die 1930er Jahre Milliarden in die riesigen Anlagen, die heute als inspirierende Mahnmale des Sicherheitswahnsinns in der Landschaft stehen. Sie regen zwar Philosophen wie Paul Virilio zum Schreiben an, ansonsten sind sie aber kulturelle Stolpersteine, um welche die meisten einen Bogen machen.

Keiner soll unbefugt raus. Gebaute Sicherheits-Ikone des 20. Jahrhunderts Nr 2: Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim in Deutschland.

Einzelbauten müssen heute in der Regel ihre eigene Festung sein, stehen sie doch in weitgehend ungeschütztem und kaum kontrolliertem Territorium. Interessanterweise geht die Architektur mit diesem Thema seit mehr als hundert Jahren sehr gelassen um. Die Funktion Sicherheit tritt kaum je als bauliches Merkmal in Erscheinung. Man tut so, als habe man sie eigentlich gar nicht nötig und delegiert sie ab an die Technik. Anscheinend ist die Gesellschaft mit dieser vermeintlichen Gelassenheit bisher gut gefahren, vielleicht ist expressiv gezeigte Sicherheit aber auch ein aktuelles Tabu.
 
Heute ist der Wahnsinn auf jeden Fall ein ständiger Begleiter der Sicherheit. Was die Durchlässigkeit anbetrifft, so findet eine hektische Hochrüstung statt, wie sie seit eh und je die Entwicklung der ensprechenden Massnahmen begleitete: Kaum hat man ein neues Schloss entwickelt, findet sich jemand, der sich für den Ehrgeiz belohnt sieht, dieses knacken zu wollen. Dieser Wettstreit hat einen sportlichen Charakter und konsumiert beträchtliche Ressourcen. Er hat sich, wie gesagt, auf eine technische Ebene verlagert. Manchmal hat man das Gefühl, die Komplexität der Lösungen steige in dem Masse wie die Kompetenz jener, welche die Anlagen bedienen oder überwachen müssen, sinke.

Gibt es ein Entrinnen? Die moderne Trommelschleuse kann chaplineske Ängste wecken. Bild: www.technolog.de

Mit den technischen Sicherheitslösungen verhält es sich wie mit fremden Hunden: Man weiss nicht mit völliger Gewissheit, wie sie Freund und Feind voneinander unterscheiden. Deshalb ist Vorsicht angesagt. Nie lässt sich ausschlissen, dass die Sicherheitsmassnahmen, die einen vor einer meist nur vage erkennbaren Bedrohung schützen sollen, sich explizit gegen einen richten. Dies beginnt harmlos nach dem Verlust eines Schlüssels und endet grotesk und unendlich tragisch bei der terroristensicheren Cockpittüre im Germanwings-Flugzeug. Der Glaube, dass man das Schicksal bis zur letzten Konsequenz voraussehend steuern kann, ist Wahnsinn.

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