Tahrir-Platz und Facebook

Ursula Baus
22. Februar 2011
Der Tahrir-Platz in Kairo Mitte der 1970er Jahre, aufgenommen vom Cairo Tower aus (im Plan links, Bild: Wolfgang Schwinge) 
Präsenz

Die Stadt als Ort, an dem Menschen dicht beieinander sind, war stets eine Brutstätte der Gedanken, die um eine Veränderung der Lebens- und Machtverhältnisse kreisten. Nicht von ungefähr ist die Versammlungsfreiheit in Demokratien ein gesetzlich geschütztes Gut, das leider nicht überall in der Welt in gleicher Weise geschätzt wird. Der Rote Platz in Moskau, der Platz des himmlischen Friedens in Peking – und dieser Tage der Tahrir-Platz (Platz der Befreiung) in Kairo: Es sind solche konkreten Orte, die als Versammlungsorte in das öffentliche Gedächtnis, in die Geschichte der regionalen, nationalen oder internationalen Ereignisse eingehen, weil sich unterdrückte Menschen nur noch kollektiv und in der Öffentlichkeit zu helfen wussten. Um diese Orte geht es: Sie verlieren im Zeitalter ortsungebundener Kommunikation keineswegs an Bedeutung, sondern spielen womöglich eine wichtigere Rolle, weil sie planmässig bespielt werden können. Mit Hilfe neuer Medien lässt sich auf neue Weise Regie führen, wenn Menschenmassen im öffentlichen Raum zusammenkommen sollen. So gewinnen öffentliche Räume, genauer gesagt: Grosse Plätze an Wert für Bewegungen, die – wie dieser Tage in Kairo – ihren Ort brauchen und via Internet, Facebook oder Handys suchen, finden und benutzen. Es sind "Menschenmassen", die ihren realen Platz und ihre mediale Präsenz brauchen, um politischen Druck ausüben zu können. Zigtausend widerspenstige Meldungen bei Facebook hätten einen Hosni Mubarak nicht aus dem Amt gejagt – hunderttausend oder mehr Menschen, die mit hochgehaltenen Schuhen ihrem Verdruss und ihrer Verachtung Ausdruck verliehen, gelang dies letztlich binnen weniger Stunden.

Der Tahrir-Platz Anfang der 1980er Jahre (Bild: richtig reisen, Köln 1983) und Ende der 1970er Jahre (Bild: Egypt, Macdonald Countries)
Platzverhältnisse

Tagelang richtete sich der Blick der Medien auf einen Platz, der vor einigen Jahren noch ein Feindbild der Stadtplaner gewesen sein mag. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo war man dem Prinzip der Verkehrstrennung gefolgt und hatte eine Fussgängerebene mit Brücken gebaut, um der autogerechten Stadt – einer heiligen Kuh des Westens – zu huldigen. Die Fussgängerebene gibt es nicht mehr. Die Fussgängerbrücken wurden abgebrochen, drei- bis fünfspurig schiebt sich der Autoverkehr heute mühselig und zäh auf gleicher Ebene wie die Fussgänger um eine begrünte Mittelinsel. Der Platz ist riesig, hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert, in dem osmanische Könige noch nach Mitteleuropa schauten und dort ihre Vorbilder für Platzanlagen suchten. Am 23. Juli 1952 wurde auf dem Tahrir-Platz das Ende der Monarchie gefeiert (daher der Name "Platz der Befreiung"), 1977 war er Schauplatz der Proteste gegen Anwar el Sadat, im März 2003 gegen den Irakkrieg – und seit dem späten Januar 2011 versammelten sich kaum zählbare Menschenmassen täglich, um ihre Freiheit zu erstreiten. Es bedarf einer sorgfältigen medientechnischen und soziologischen Analyse, um das Wechselspiel zwischen Kommunikationstechnologie und konkreter Ortsrelevanz bewerten zu können. Das erlauben wir uns für Ägypten auf keinen Fall aus unserer Stuttgarter Perspektive.
Reporter vor Ort betonen aber immer wieder, welche Rolle die Kommunikation mit Internet und Handy für die Disziplin auf dem Tahrir-Platz gespielt habe. Vor allem die gut informierte Jugend – sie stammt in weiten Teilen aus unter Mubarak verarmtem Mittelstand – wusste den Platz zu dirigieren und zu pflegen. Auch die Versorgung der Zigtausenden wurde weitgehend zivil organisiert. Logistisch scheint sich hier die Sternstruktur um den Platz bewährt zu haben. Auf dem rund 490.000 squarefeet (45.523 qm) grossen Platz können nach Schätzungen von Experten maximal 250.000 Menschen stehen. Panik gilt es in diesen Dimensionen tunlichst zu vermeiden, und das gelang in Kairo. Nebenbei: Für die Duisburger Loveparade waren 2010 auf einem geschlossenen Gelände von 230.000 qm 250.000 Besucher genehmigt. Über den Tag verteilt ging der Veranstalter von 485.000 Besuchern aus – und die Stadt hatte Millionen Besucher versprochen – das sind die Zahlen, die sich die Politik als Werkzeuge erfindet. Irgendwo zwischen Erfindung und Erfahrung sind reale Zahlen zu suchen. In Duisburg fanden 20 Menschen den Tod, 500 waren zum Teil schwer verletzt. In Ägypten sind die mehreren hundert Toten und Verletzten den Schergen Mubaraks geschuldet.

Menschenmassen auf dem Tahrir-Platz 2011 und Menschenleere am Zaun des Kanzleramtes in Berlin (Bilder: Webblog Noah Shachtman 1.2.2011, E. Hofmann) 
Freiheit und Überwachung

Die Erfahrungen in Kairo verdeutlichen, warum der öffentliche Raum vor jeglichen privaten oder machtpolitischen Ansprüchen geschützt werden muss. In den Regierungsbezirken unserer hiesigen demokratischen Republik verbarrikadiert sich aber mehr und mehr eine politische Kaste, die vorgibt, sich gegen Terroristen oder wer-weiss-wen schützen zu müssen. Aber de facto will sie die Stimme eines klugen Volkes nicht hören. Und sie hört sie deswegen auch nicht. Die Regierungsarchitektur der Berliner Republik ist lediglich ein Beispiel dafür, wie ursprünglich öffentliche Bereiche zu hermetischen Räumen umgebaut werden. Dass man in die Kuppel über dem Reichstag steigen kann, gehört zum Dekor des Themenparks Demokratie, das mit der Stadt – siehe oben – wenig zu tun haben möchte.
Nichts anderes geschieht, wenn privatisierte Strassen und Gated Communities in den Stadtplänen auftauchen. Es sind Ghettos, die sich bestimmte Teile einer Gesellschaft selbst einrichten, um sich der Stadt zu entziehen und vor eher fiktiven als realen Gefahren abzuschotten. Der öffentliche Raum verkommt zu Restflächen, für den sich niemand mehr zuständig fühlt. Überwachungskameras allerorten verbannen die Gemengelage aus Angst und Gleichgültigkeit in ein privates Datennirwana.
Als vor wenigen Tagen in Stuttgart Bäume am Hauptbahnhof umgepflanzt wurden, stand ein Polizeiwagen mitten auf der B27, auf dem Wagen thronte ein Polizist mit Stativ und Kamera, der das Szenario filmte. Unbescholtene Bürger schüttelten mal wieder den Kopf: Längst leben wir in einem Überwachungsstaat. Im Interesse der Bedeutung des öffentlichen Raumes für eine Demokratie kann man nur eins: Die Kontrolle mit langgestreckter Nase ignorieren und mit Demonstrationen daran erinnern, dass die Politik Dienst am Volk zu leisten hat. Und nicht umgekehrt.

(Wir übernehmen diesen Beitrag vom German-Architects.com eMagazin, Ausgabe 7|2011)

Vorgestelltes Projekt

TK Architekten

Revitalisierung Shopping Center «Serfontana»

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