Teile wieder zusammenführen

Inge Beckel
15. März 2011
Hörsaalgebäude Weichenbauhalle, Uni Bern (Bild: Karin Gauch, Fabien Schwartz) 
6 Kriterien

Eine umsichtige, zukunftsfähige Gestaltung des Lebensraums bedeutet eine nachhaltige Gestaltung. Vergewissern wir uns kurz, das schon ziemlich «abgeschmackte» Wort Nachhaltigkeit umfasst die drei zentralen Bereiche der Ökonomie, also des Geldes, weiter der Ökologie, will heissen der Umwelt, und der Gesellschaft, die so genannte soziale Nachhaltigkeit. Der Kriterienkatalog bei der Auszeichnung des SIA wurde – und dies schon bei deren erster Vergabe vor vier Jahren – auf sechs erweitert. Hinzu kommen die kulturelle Leistung und ästhetische Qualität eines Vorhabens, weiter die Transdisziplinarität, also dass die vorgeschlagene Lösung ein Ergebnis eines disziplinübergreifenden Teams darstellt, und schliesslich der Pilotcharakter, soll doch die ausgezeichnete Arbeit Vorbild für künftige Entwicklungen sein. Da wir Menschen vor allem durch Nachahmung lernen, sollen uns Vorbilder führen, nicht Verbote.
Konkret: Ehrungen erhielten zum einen zwei Infrastruktur-
projekte. Ausgezeichnet wurde die Glattalbahn – das ausführende Team leiteten die VBG Verkehrsbetriebe Glattal unter Andreas Flury (zur Einsicht der vollständigen Listen vgl. Umsicht-Dossier von tec21; Download hier) – denn die Glattalbahn setze über die Landesgrenzen hinaus Massstäbe für eine nachhaltige und zukunftsfähige Siedlungs- und Verkehrsentwicklung in einer Stadtregion, heisst es im erwähnten Dossier. Als zweites Infrastrukturprojekt erhielt die Gesamterneuerung der Nationalstrasse Urner Talboden von Seedorf nach Amsteg eine Anerkennung, da mit dieser Erneuerung die «ökologischen Defizite der ursprünglichen Autobahn behoben werden» konnten (s. Dossier). Daneben zeige das Projekt exemplarisch auf, wie in engen Alpentälern die unterschiedlichen «Anspruchskonflikte» bei Infrastrukturbauten mit hohem internationalen Transitaufkommen gelöst werden könnten.

Erweiterungsbau IUCN, Gland VD (Bild: Reinhard Zimmermann) 
Verdichten, mehrfach nutzen

Desweiteren wurden drei Verdichtungen geehrt. Verdichtungs-
projekte sind das Hochhaus Weberstrasse 91 in Winterthur und das Wohn- und Geschäftshaus Selnaustrasse, gelegen an der Gerechtigkeitsgasse 2 in Zürich; beide erhielten Auszeichnungen. Sinngemäss zählt auch das Zürcher Eisenbahnviadukt zu den Verdichtungen, dem eine Anerkennung zugesprochen wurde. Das Winterthurer Hochhaus wurde nordseitig mit einem «Rucksack» erweitert, womit trotz Verdichtung der alte Baumbestand erhalten werden konnte (mit den Architekten Burkhalter Sumi und Bednar Albisetti im Team). Das Wohn- und Geschäftshaus Selnaustrasse beeindrucke durch die Präzision der städtebaulichen Analyse und deren ganzheitlicher Übersetzung in Trägermodell und Planungsprozess, so nachzulesen im Dossier. Baulich wurde eine dreistöckige Steinkonstruktion von 1861 mit einem zweistöckigen Leichtbau aus Holz aufgestockt (im Team Park Architekten und das Atelier Urbane). Die Bögen des Eisenbahnviadukts im Kreis 5 schliesslich wurden zu Geschäften umgenutzt (die verant-
wortlichen Architekten im Team waren EM2N). Städtebaulich dient dieser Eingriff als neues Verbindungselement zwischen zuvor stärker separierten Stadtteilen – dass er gleichzeitig zur Gentrifizierung des Kreis 5 beiträgt, kann als Wermutstropfen bezeichnet werden.
Ausgezeichnet wurde überdies der IUCN-Erweiterungsbau (International Union for Conservation of Nature) in Gland und die Umnutzung einer ehemaligen Weichenbauhalle in ein Hörsaalgebäude der Uni Bern. Während es bei letzterem einem disziplinübergreifenden Team mit den Architekten Giuliani Hönger gelungen ist, «auf hohem Niveau ein Referenzobjekt für einen nachhaltigen Strukturwandel umzusetzen» (s. Dossier), überzeugt das zuerst genannte Projekt durch seine Experimentier-
freudigkeit, mitunter als Beispiel einer Null-Emissions-Architektur. Das im Team involvierte Büro agps architecture selbst meint, dass es ein zentraler Faktor des Konzepts gewesen sei, den einzelnen Bauteilen mehrere Funktionen zu geben. Die äusseren Balkone etwa seien gleichzeitig Schattenspender, Fluchtwege und individuell nutzbare Aussenräume. An der Biennale vom Herbst des letzten Jahres in Venedig titelten die Niederlande ihren Beitrag «Vacant NL». Dort ging es darum, dass auch genutzte Bauten während vieler Stunden leer stehen. Wären sie demgegenüber als multifunktionale Gebäude angelegt, wären sie besser ausgelastet. Multifunktional angelegte Bauteile wie Räume sind insofern nachhaltig, als dass sie die Dichte und Vielfalt des Lebens reflektieren.

Wohn- und Geschäftshaus Selnaustrasse Zürich (Bild: Dominique Marc Wehrli) 
Ganzheitlichkeit

Schliesslich wurde das Gesamtprojekt für das Benediktinerkloster Disentis und dessen Landwirtschaft ausgezeichnet. «Das umsichtige Besinnen und das Beharren des Klosters auf dem eigenen Profil sowie die Achtung der Besonderheiten des Örtlichen und Regionalen in der Umsetzung beeindrucken als mutiger, zukunftsoffener Prozess», heisst es dazu im Dossier. In Disentis wurden in den Jahren 2004 bis 2010 ein Mädcheninternat, ein Kuhstall – mit Kühen, die ihre Hörner behalten können, heute (noch) die Ausnahme – und, erst jüngst eingeweiht, eine Sennerei gebaut, mit Architekt Gion Caminada im verantwortlichen Team. Während bei gewissen Projekten, etwa dem Erweiterungsbau in Gland, gezielt auf technischen Fortschritt und damit High-Tech-Methoden gesetzt wurde, folgt das Disentiser Vorhaben primär bewährten Traditionen. Einmal gehören zu einem Benediktiner-
kloster seit Jahrhunderten sowohl Ausbildung wie Gutsbetrieb, andererseits wurde das Dach des Kuhstalls, ästhetisch gelungen, mit der Gewinnung alternativer Energien kombiniert.
Ob im Ansatz tendenziell «high» oder «low», richtig eingesetzt braucht es für zukunftsfähige Lebensräume beide Wege – und deren Kombinationen. Auch gehören zu einer zukunftsfähigen Gestaltung des Lebensraums nicht primär herausragende Einzelbauten, die wohlgemerkt medial viel einfacher zu vermarkten sind, sondern ihr Zusammenspiel mit Nachbarn wie Nachbarbauten – mit ihrem Umfeld generell: Räumlich, ökonomisch, sozial … Denn genau betrachtet bedeutet Nachhaltig-
keit Ganzheitlichkeit. Nach dem Fragmentieren, das die Zeit vor rund 100 Jahren massgeblich prägte – als Stadtkörper nach Funktionen getrennt, Räume nach Zwecken aufgeteilt oder Berufe in Spezialisten aufgesplittert wurden –, müssen wir uns heute darum bemühen, die Teile wieder vernünftig zusammenzuführen, zu kombinieren, zu überlagern, in gegenseitigen Dialog zu bringen. Also Räume schaffen, in denen geschlafen und gespielt, Quartiere, in denen gewohnt und gearbeitet, Institutionen, in denen körperliche wie geistige Arbeit verrichtet wird. Nachhaltigkeit, das heisst auch Teamarbeit, Konfliktfähigkeit, Wohlbefinden, zuweilen Chaos und vieles mehr …

Vorgestelltes Projekt

EBP AG / Lichtarchitektur

Schulanlage Walka Zermatt

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