Vorhersehbare Unvorsehbarkeit und regelmässige Unregelmässigkeit

Fabienne Hoelzel
7. Juni 2011
Im Innern der selbstgebauten Häuser, hier Nova Jaguaré (Zentrum São Paulo) (Bild: Fabio Knoll)

Die Tiefe der Andersartigkeit bemerkt man natürlich erst nach einer Weile, dann, wenn sich die erste Euphorie gelegt hat und eine gewisse Routine in die Handlungsabläufe eingekehrt ist. «Routine» und «São Paulo» scheint auf den ersten Blick eine unmögliche Paarung zu sein, aber selbst in einer Kultur und einem Land, wo Stichworte wie Organisation und Planung keinen besonders hohen Stellenwert besitzen, gibt es so etwas wie die Vorhersehbarkeit der Unvorhersehbarkeit. Dies betrifft zum Beispiel das regelmässige Ausfallen aller möglichen Dienst- und Serviceleistungen wie etwa des ohnehin langsamen Internets, der Stromversorgung oder des Lifts sowie die fast 100-prozentige Gewissheit, dass Geschäftspartner, Kolleginnen und Mitarbeiter kaum einen der vorgängig vereinbarten Termine einhalten.

Mit São Paulo und Brasilien verhält es sich ein bisschen wie mit New York und den USA. Der Big Apple wird öfters als «europäischste» aller amerikanischen Städte beschrieben, als «untypisch» im positiven Sinne. Nun könnte man aber New York gerade aufgrund aller seiner inhärenten Eigenschaften als die amerikanischste aller Städte bezeichnen. Keine Stadt scheint den US-amerikanischen Traum und dessen permanente Neuerfindung besser zu symbolisieren. Mit São Paulo ist es ähnlich. Kaum jemand würde Brasilien spontan mit der Millionenmetropole São Paulo assoziieren. Die meisten Touristen reisen denn auch gleich weiter oder steuern Städte wie Rio de Janeiro und Salvador im Nordosten des Landes gleich direkt an, da sie den Strand-, Samba- und Palmenklischees viel eher genügen. São Paulo hingegen steht mit seiner räumlichen Ausdehnung auf 1500 Quadratkilometern und seiner 11-Millionen-Bevölkerung für das neue, aufstrebende und wirtschaftlich boomende Brasilien; für jenes Brasilien eben, welches sich als eine der künftigen Schlüsselmächte auf der Weltbühne sieht. Mit anderen Worten: Alle Stärken und Schwächen dieser Stadt sind ein Abziehbild des zeitgenössischen Brasiliens.

São Paulos prekäre Siedlungen: Favelas (gelb), irreguläre Siedlungen (orange), cortiços (grün), abgeschlossene Arbeiten in ehemaligen Favelas (blau) (Grafik: Sehab São Paulo)

Dazu gehören die starke, internationale Finanz- und Wirtschaftbranche, die Industrie, die Spitzenforschung, die für ihre Qualität landesweit bekannten Spitäler, aber auch die massiven Verkehrsprobleme, die ungenügend ausgebauten öffentlichen Transportsysteme, die schlechte Luft, die wenigen Grünräume, das inexistente Sturmwasser-Management, die schlechten öffentlichen Grundschulen (und die daraus folgende tiefe Allgemeinbildung) sowie das hohe Preisniveau, nicht nur im Grundstück- und Immobilienmarkt. Hinzu kommt die mit Abstand grösste Herausforderung, auf welche es im Gegensatz zum viel diskutierten Klimawandel keine technologischen Lösungen gibt: Die unheimliche Schere, die sich zwischen den vielen extrem Reichen und den vielen extrem Armen auftut, und die sich im Nebeneinander von unglaublich teuren Geschäften und Wohnungen auf der einen Seite und Armensiedlungen auf der anderen widerspiegelt. Nichtsdestotrotz teilen sich Arm und Reich dieselbe Stadt, manchmal buchstäblich Tür an Tür.

In São Paulo lebt eine von drei Personen in kritischen Umständen, d.h. in Favelas (slums), irregulären Siedlungen, überfüllten Häusern oder gleich auf der Strasse. São Paulo ist allerdings auch die Stadt, welche 4 Prozent des städtischen Budgets in die so genannte Slum-Aufwertung steckt («urbanização de favela»), was nicht nur in Brasilien, sondern auch in Lateinamerika einzigartig ist. Unabhängig davon, ob man nun mit allen Massnahmen und ihrer langfristigen Sinnhaftigkeit einverstanden ist oder nicht, ist es beachtenswert, dass die Regierung erkannt hat, dass die systematische, breit abgestützte infrastrukturelle und soziale Aufwertung von informellen Siedlungen Teil einer nachhaltigen Stadtentwicklung und der politischen Agenda sein muss.

Favelas aufwerten

Nun ist dies auch der Grund, warum ich vor knapp eineinhalb Jahren nach São Paulo gezogen bin. Meine Chefin, Elisabete França, führt rund 50 Leute direkt und ungefähr 200 indirekt. França ist sowohl die Leiterin des Amtes für Sozialwohnungsbau als auch die Vizesekretärin der Wohnbaubehörde von São Paulo (Sehab). Der Sekretär des Sehab, Ricardo Leite, ist direkt dem Stadtpräsidenten Gilberto Kassab unterstellt und auch von jenem ernannt worden. Das Sehab ist neben dem Erbauen von Sozialwohnungen vor allem für die Aufwertung von Favelas mit städtischen Infrastrukturen wie Wasser, Abwasser, Regenwasser- und Abfallmanagement etc. verantwortlich, aber auch für das Bereitstellen von günstigem Wohnraum, in erster Linie für jene Leute, deren Häuser aufgrund geologischer Risiken wie Erdrutsch- oder Überflutungsgefahr geräumt werden müssen.

Favela São Francisco (im Osten der Stadt), gut sichtbar die zahlreichen Sozialwohnbauten ausgeführt von unterschiedlichen Administrationen seit den 1980-er Jahren (Bild: Fabio Knoll)

Die Politik des Sehab beruht in erster Linie darauf, die Favelas zu erhalten und nicht etwa zu räumen. Im strategischen Masterplan von São Paulo, welcher derzeit in Revision ist, wurden 2002 vier Zonentypen definiert, so genannte Zonen speziellen sozialen Interesses (ZEIS 1-4). Diese Gebiete definieren gleichzeitig unser Zuständigkeitsgebiet und sind mit 30 Prozent der Bevölkerung oder 10 Prozent des städtischen Territoriums gleichzusetzen. Dies entspricht etwas mehr als 3 Millionen Menschen oder 1600 Favelas sowie 1100 irreguläre Siedlungen und 2000 «cortiços» (überfüllte, informell untervermiete Mietshäuser im Zentrum der Stadt). Die Prioritäten für Infrastrukturarbeiten, Umsiedlungen und das Bereitstellen von neuem Wohnraum werden über ein komplexes Kartierungssystem festgelegt, welches bauliche, geologische, gesundheitliche und soziale Faktoren erfasst und auswertet und öffentlich auf www.habisp.inf.breinsehbar ist. Die Gelder für die baulichen Interventionen stammen von der städtischen, der bundesstaatlichen als auch von der nationalen Regierung. Daneben gibt es zahlreiche weitere Institutionen, welche bei der Finanzierung helfen, etwa die Weltbank.

Das Sehab ist wie alle öffentlichen Ämter personell unterbesetzt und mit Arbeit hoffnungslos überlastet. Die vielen dringenden Vorkommnisse wie rutschende Hänge nach Regenfällen oder neue Landbesetzungen führen dazu, dass wichtige Dinge wie langfristige Planungen oder das gründliche Überprüfen von Vorprojekten auf ihre architektonische Qualität liegen bleiben oder zu kurz kommen; zudem sind alle Prozesse jeglicher Art extrem kompliziert, äusserst zäh und langsam, nicht zuletzt weil die Gesetzgebung die Partizipation der lokalen Bevölkerung zwingend und peinlichst genau vorschreibt. In São Paulos wohl berühmtester Favela, Paraisópolis, hält das Sehab rund 1000 Sitzungen pro Jahr ab. Die anstehende Arbeit wird in interdisziplinären Teams, zumeist Architekten und Sozialarbeiterinnen, erledigt und besteht aus Administration, Management und Überwachung der prekären Siedlungen sowie der laufenden Bauarbeiten.

Als eine von Franças persönlichen Assistentinnen bin ich für ein rund 10- bis 15-köpfiges Team verantwortlich. Unser Team nimmt hierbei innerhalb des Sehab eine gewisse Sonderstellung ein. Wir arbeiten nicht nur über die ganze Stadt verteilt – aus organisatorischen Gründen sind die einzelnen Arbeitsgruppen in der Regel ausschliesslich in festgelegten administrativen Zonen (Ost, Nord, Süd, Südost und Zentrum) tätig –, sondern wir entwerfen auch. Zuständig für die Entwicklung von städtebaulichen Rahmen- und Bebauungsplänen in den grössten Favelas der Stadt, bauen wir grosse Modelle, im Massstab 1:1000 oder 1:5000 und entwickeln Städtebauprojekte in Zusammenarbeit mit anderen städtischen Planungsbüros und privaten Beratern. Anschliessend werden für einzelne Gebiete Wettbewerbe ausgeschrieben oder Direktaufträge vergeben. Diese Art von Planungskultur im Quartiermassstab innerhalb des Sehab ist neu, welches bis anhin eher punktuell und naturgemäss ausschliesslich im Wohnungsbau tätig war. Ein wichtiger Bestandteil jener städtebaulichen Rahmen- und Entwicklungsplanungen besteht im retro-aktiven Verweben der zahlreichen früheren Interventionen, die häufig ohne Rücksicht auf die bestehende urbane Struktur erfolgten.

Die erste Quartiersentwicklung dieser Art, welche unser Team Ende Februar diesen Jahres abschliessen konnte, ist ein städtebaulicher Bebauungs- und Entwicklungsplan für São Francisco, São Paulos drittgrösste Favela. São Francisco hat etwas mehr als 50'000 EinwohnerInnen und umfasst eine Fläche von rund 170 Hektaren. Die Planung wird derzeit vom New Yorker Architekturbüro Davis Brody Bond überarbeitet, detailliert und umgesetzt. Das Budget hierfür beträgt 170 Millionen brasilianische Reais (rd. 90 Mio. CHF) bis Ende 2012, dem Ende der jetzigen Administration. Das Sehab arbeitet derzeit am rechtlich-verbindlichen Status des Planes. Dies ist deswegen von Bedeutung, da der Plan Etappierungen bis 2020 vorschlägt, die jetzige Administration aber Ende 2012 ausscheidet. Im Januar 2013 wird ein neuer Stadtpräsident das Ruder übernehmen. Inhaltliche Kontinuität ist in Brasilien nach einem Regierungswechsel selbst bei öffentlichen Planungsämtern leider eher selten. Aus diesem Grund arbeitet das Sehab seit einiger Zeit intensiv an einem Wissensmanagementsystem, welches bis zu einem gewissen Grad ein Fortbestehen der laufenden Programme und Planungsphilosophie garantieren soll.

Vorgestelltes Projekt

TK Architekten

Revitalisierung Shopping Center «Serfontana»

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