«Ein ästhetischer Raum vermittelt Respekt»

Jenny Keller
27. Oktober 2012
Das «Citizen Office» im Vitra-Sitz in Weil am Rhein wurde von der Innenarchitektin Sevil Peach gestaltet. Bild: Eduardo Perez © Vitra

Was sehen sie, wenn Sie am Schreibtisch Ihres Büros sitzen?
Eigentlich in der Regel den Rechner, der vor mir steht. Jetzt ist es in meinem Job so, dass ich sehr viele Gespräche führe, deswegen ist mein Büro wie ein Besprechungsraum eingerichtet.

Sitzungsraum im «Citizen Office». Bild: Eduardo Perez

Sobald das Wort «ergonomisch» fällt, assoziiere ich als Architektin automatisch «hässlich». Natürlich arbeiten Sie bei Vitra mit grossen Designern zusammen, damit auch der bequeme Bürostuhl noch gut aussieht. Trotzdem: Wieso gibt es so oft diese Verbindung?
Ich glaube, Sie sind beim Kernpunkt von Vitra angelangt. Die Grundausrichtung unseres Designs wird bestimmt von der klassischen Moderne und deswegen mögen uns die Architekten ganz gut leiden. Die klassische Moderne hat immer versucht, Produkte mit einem Minimum an Materialien herzustellen. Bei dem Beispiel des Bürostuhls kommt noch hinzu, dass man darauf bequem sitzen möchte.

Das Institut für Biomechanik an der ETH versteht eine ganze Menge von dieser Problematik, weswegen wir mit ihnen zusammenarbeiten. Die neuste Bürostuhllinie «ID Chair» ist gemeinsam mit diesem Institut und mit Antonio Citterio entwickelt worden. Citterio steht für ein Minimum an Material und das Institut der ETH steht dafür, dass die ergonomischen Anforderungen erfüllt werden. Beim «ID Chair» orientierte man sich beim Sitzen auf einem Ball: Wenn Sie auf einem Gymnastikball sitzen, sitzen sie richtig, weil das Gewicht ideal verteilt ist und weil sie die Balance halten müssen. Das Entscheidende dabei ist, dass man sich mit dem Ball bewegt, und das ist sehr wichtig für die gesamten Körperfunktionen. Der ganze menschliche Körper ist auf Dynamik ausgerichtet. Deshalb muss ich die Ballfunktion in den Stuhl integrieren. Mit dem ID Chair ist es uns gelungen einen ergonomisch wertvollen und ästhetisch ansprechenden Stuhl zu entwickeln.

Der Individualität muss man ebenfalls Rechnung tragen. Sie können beim «ID Chair» 8000 Varianten wählen, aber auch das reicht nicht. Es geht nicht um die Reduktion von Komplexität sondern darum, die Komplexität zu managen.

Explosionsbild des «ID Chair». © Vitra

Effizienz ist ein Schlüsselwort in der Arbeitswelt. Die gestalterische Individualität kommt dabei aber oft zu kurz. Was raten Sie ihren Kunden, die sich die Büromöbel bei Ihnen bestellen?
Sie sprechen das Problem des Budgetsdenkens an: Budgetdenken vs. Ästhetik?. Oft werden die Büros von Technokraten «eingerichtet», die genau am Ziel vorbeischiessen. Das liegt am Checklisten-Denken: Man hakt Punkt um Punkt ab, aber das Endresultat stimmt nicht, weil man ästhetisch Fehler begangen hat. Dabei wird unterschätzt, wie viel angenehmer und damit motivierter und inspirierter sich viele von uns in einem gut eingerichteten Raum fühlen. Ein ästhetisch eingerichteter Raum ist Ausdruck des Respekts für die Mitarbeiter.

Ich behaupte, wir alle versuchen, uns in einem ästhetischen Feld zu bewegen. Realisieren können wir es durch Kleidung, durch das Auto und in der eigenen Wohnung. Bei einem Grossraumbüro müssen die Profis ran, die die Synthese zwischen Raum, Technik und Innenarchitektur herstellen.

Grundsätzlich kommt es sehr stark auf die Flexibilisierung der Räume an; aus der Sicht des Projektentwicklers, des Vermieters und auch des Mieters. Das bedeutet auch für die Architekten, dass sie sich umstellen müssen, denn planen nach 0815-Schemata ist nicht mehr zeitgemäss.

Einblick in die Kommunikationszone des «Citizen Office». Bild: Eduardo Perez

Wer ist der «Office Citizen», den Vitra kreiert hat (s. rechte Spalte) und was zeichnet ihn aus?
Im Prinzip verändert sich die Büroarbeitswelt weg von der Administration hin zu der kreativen Wissensarbeit. Diese findet an unterschiedlichsten Orten statt. Der moderne Wissensarbeiter stellt andere Anforderungen als der Administrator, der eigentlich die Prozesse abarbeitet. Die Administration wird immer mehr von IT-Prozessen übernommen werden, nur noch an den Schnittstellen braucht es Menschen. Die Arbeit wird mit den modernen Geräten von überall her erledigt. Gehen Sie einmal davon aus, die Firmen sagen, einen Tag wird von zu Hause aus gearbeitet, dann schont das die Infrastruktur um 20 Prozent. Es fällt weniger Verkehr an, man kann sich um die Kinder kümmern und sich besser arrangieren. Man arbeitet nicht mehr nach Stunden, man arbeitet gemäss Arbeitsanfall. Und wenn man passioniert ist für seine Arbeit, dann will man den Arbeitsanfall auch abarbeiten und hat Spass am Ergebnis.

Da wir weltweit tätig sind und Vergleiche mit Asien, Amerika und dem restlichen Europa anstellen können, deutet vieles darauf hin, dass wir vor einer grossen Outsourcing-Bewegung in der Bürowelt stehen. Etwas, das bei der Produktion schon eingetroffen ist. Man wird sich fragen: Brauchen wir überhaupt noch Büros? Diese Büros werden immer mehr zu Kommunikationszentren werden. Dort trifft man zusammen, um sich auszutauschen, denn die eigentliche Arbeit kann man heute überall erledigen, weil wir alle unsere mobile devices dabei haben.

«Workbay» ist eine Neuheit, die am Stand von Vitra an der Orgatec gezeigt wird. © Vitra

Kann denn ein Möbelhersteller wie Vitra die Gesellschaft verändern?
Die Antwortet lautet ganz klar Nein, das können wir nicht. Steve Jobs und sein Team haben die Welt verändert, durch eben diese «mobile devices». Und Bill Gates hat Anfang der Neunzigerjahre prophezeit, dass die Kommunikation das IT-Business dominieren wird im neuen Jahrtausend. Genau das ist passiert. Die Welt wird verändert durch das hier. (Zeigt auf meinen iPad, der das Gespräch aufnimmt – und mit dem ich im Zug weiterarbeiten werde).

Ich muss heute als Chef nicht mehr durch die Möblierung meines Büros die Mitarbeiter einschüchtern. Das ist alles nicht mehr nötig. Alle Leute sind hervorragend ausgebildet und man kann durch den sozialen Aufstieg nicht mehr protzen, weil das die Leute nicht mehr interessiert. Das sind gesellschaftliche Veränderungen, die wir wahrnehmen, und da müssen wir sehr genau aufpassen. Hierarchien werden sterben, denn solche freien Geister kannst Du gar nicht mehr domestizieren.

Das Design stammt von den Gebrüdern Bouroullec. © Vitra

Zwischen Arbeit und Leben gibt es kaum noch Grenzen, die Mails kann man während des Sonntagfrühstücks im Bett checken oder am Kindergeburtstag der Tochter. Sollten wir nicht wieder mehr trennen, damit wir bewusster leben – und arbeiten?
Wir bei Vitra haben keine Trennung. Aber ich will nicht sagen, dass das immer so sein wird. Volkswagen zum Beispiel hat den Mailverkehr intern limitiert, und das finde ich gar nicht falsch. Ich glaube sowieso, dass die Mailflut – 70 Prozent davon sind Werbung und Spam – so nicht weitergehen wird.

Welche Neuheit präsentiert Vitra an der Orgatec 2012?
Unser gesamter Orgatec-Auftritt ist neu: Wir haben kein Kaffee mehr mit Tischen, sondern setzen uns auf runde Polster von Verner Panton, die man individuell platzieren kann. Wir werden das mit den Bouroullecs entwickelte Raum-in-Raum-Konzept «Workbay» vorstellen. Da gibt es mobile Wände, die man innerhalb von Minuten umbauen kann. Der Werkstoff dieser Trennwände ist Polyester, den man sonst im Kofferraum des Autos findet und der auch ausgezeichnete akustische Werte aufweist. Das Polyester ersetzt den Filz, der viel zu teuer ist.

Der «ID Air» von Antonio Citterio ist eine Weiterentwicklung des «ID Chair». Bild: Marc Eggimann © Vitra

Der «ID Chair» wurde ausserdem um ein Element ergänzt: Wenn wir von der non-territorialen Nutzung eines Büros ausgehen – das heisst, dass drei mal am Tag unterschiedliche Leute an einem Tisch sitzen – setzen sich die Arbeitnehmer nicht mehr mit der Individualeinstellung Ihres Stuhls auseinander, weil es gar nicht mehr Ihr Stuhl ist. Der «ID Chair» erkennt Sie nun anhand des Gewichts und passt sich an. Das ist neben den neuen Varianten «ID Air» und «ID Trim Cap» eine Neuerung, die wir an der Orgatec vorstellen, und die geht einher mit der Entwicklung der Büros und der Gesellschaft im Allgemeinen.

Hanns-Peter Cohn ist Chief Executive Officer (CEO) des 1950 gegründeten Unternehmens in Familienbesitz.
Das Projekt Citizen Office begann 1991: Auf Anregung von Vitra setzten sich Andrea Branzi, Michele de Lucchi und Ettore Sottsass mit dem Büro auseinander und entwarfen Strategien der Veränderung, mit denen sie die Begrenztheit einer eindimensionalen Bürowelt durchbrechen wollten. Ihr Gegenentwurf mündete in einer Ausstellung des Vitra Design Museums und in einer Publikation. Er beschrieb das Büro aus der Sicht des Nutzers, der sich unterstützt von neuen Kommunikationstechnologien in einem Netzwerk mit anderen organisiert und sich autonom in einer Vielzahl von räumlichen, zeitlichen und typologischen Büroszenarien bewegt. Das Büro sollte zum lebendigen Begegnungsort werden, der die Trennung von Leben und Arbeiten hinter sich lässt. Auf der einen Seite stärkt die neue Arbeitsumgebung die Rolle der Mitarbeiter als eigenständige und selbstbewusste Teamplayer – Vitra nennt sie «Office Citizen» – sowie auf der anderen Seite die flacher werdenden Hierarchien, die neuen technischen Möglichkeiten und die zentrale Rolle der Kommunikation. pd

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