Gemeinsame und bleibende Werte

Jenny Keller
30. August 2012
Grafik: John Morgan, www.morganstudio.co.uk.

Um es vorweg zu nehmen: Gestern um 12 Uhr wurden die Goldenen Löwen vergeben. Álvaro Siza Vieira erhielt ihn für sein Lebenswerk, der Japanische Pavillon hat laut der Jury den Geist von Common Ground am Besten eingefangen. Und als bestes Ausstellungsprojekt zum übergreifenden Thema von David Chipperfield wurde «Torre David» vom Urban Think Tank (Alfredo Brillembourg, Hubert Klumpner) zusammen mit Justin McGuirk ausgezeichnet.

Der Schweizer Pavillon in der Ruhe vor dem Sturm der Eröffnung. Das Ensemble als Wandbild. Alle Bilder, wenn nicht anders vermerkt: jk

Die Biennale spielt sich an zwei Hauptschauplätzen ab. In Arsenale und in den Giardini. Die beiden Orte sind durch Vaporetti-Shuttles und natürlich auch thematisch miteinander verbunden. In der ganzen Stadt, die Chipperfield als «Bühne, wie es keine andere Stadt für eine solche Veranstaltung bieten könnte», sieht, ist bis im November Schauplatz zahlreicher Nebenveranstaltungen - und verirrter Architekten auf der Suche nach ihrem Hotelzimmer, die bisweilen wie Chipperfield selbst «beschämt sind von der Schönheit Venedigs».

Nun aber der Reihe nach. Die Tour kann man mit der Ausstellung in Arsenale beginnen, denn gleich am Eingang ist man bereits mitten drin: Links des grossen Tores zeugen Bernard Tschumis Poster aus den Siebzigerjahren davon, dass die aktuelle Debatte, die von Kurator David Chipperfield dieses Jahr unter das Thema Common Ground gestellt worden ist, nicht erst seit kurzem geführt wird. Rechts davon überzeugt Vogt Landschaftsarchitekten AG mit einem feinen und durchdachten Beitrag.

Bernhard Tschumi Advertisements for Architecture 2012. Basierend auf der Arbeit von 1976, 77.

Bald schon bemerkt der Besucher der Ausstellung, dass auch hochkarätige Berufsvertreterinnen und -vertreter einfallslos sein können und nur noch sich selbst darstellen. Auch wenn man Kollaborationen mit Studenten oder Kollegen eingegangen ist (was eine Vorgabe von Chipperfield war). So mancher enttäuschende Beitrag zeigt dann auch lediglich, was man von den Architektinnen und Architekten bereits kennt. Und dazu wurde ein Text verfasst, der den Ausdruck Common Ground über die Selbstdarstellung spannt. Wir fokussieren hier deshalb lieber auf die bleibenden Eindrücke.

Norman Foster, Künstler Charles Sandison und Regisseur Carlos Caracas haben zum Beispiel eine digitale Collage produziert, die Verbindungen zwischen einer akademisch, enzyklopädischen Architektur und der alltäglichen, gebauten Umwelt knüpft.

Bei Norman Fosters Collage wird auch der Betrachter zur Projektionsfläche.

Der andere Giacometti
In einem Art Zwischenraum, nicht ganz so schön wie die anderen umwerfenden Räumlichkeiten in Arsenale, verstellt mit technischen Einbauten und einer offenen Türe gegen aussen stehen Bronzestatuen von «zwei Künstlern», wie der Beschrieb des Beitrags erklärt. Sie sollen die Beziehung zwischen dem stehenden Menschen und dem architektonischen Element der Säule darstellen. Ein Leitmotiv in der Architektur.

Unter die grösseren «Stehenden» (1951 bis 53) von Hans Josephson hat sich auch die «Femme de Venise VIII» (1956) von Alberto Giacometti, dem grossen Bruder des Biennale-Pavillon-Architekten, gesellt. Die Statue ist eine Leihgabe des Kunsthauses Zürich, dessen Erweiterung nach den Plänen von Chipperfield, dem Kurator der Biennale, gebaut wird. Ein subtiler Beitrag von Peter Märkli, der zusammen mit Steve Roth den Star wie die anderen behandelt und dabei Bezüge schafft, die sieht, wer einen gemeinsamen Wissensraum (s. rechte Spalte), also den Common Ground der Biennale und der Schweizer Beiträge hat.

Die bescheidene Femme de Venise VIII (1956) von Alberto Giacometti wird streng bewacht und von vielen übersehen.

Im Hintergrund des Bildes sieht man noch das «Gefäss» (Vessel) von Sheila O'Donnell und John Thomey, die mit ihren poetisch feinen Beiträgen in Bildern, Texten und wunderschönen Modellen die Beziehung von Architektur zu Kunst, Literatur und weiteren Inspirationsfeldern zur Sprache bringen wollen.

Wunderschöne Modelle von Sheila O'Donnell und John Thomey.

Nach dem «Elbtraum» folgt die Mittagspause
Zwölf (!) Schweizer Beiträge sind an der diesjährigen Architekturbiennale versammelt. Auch Herzog & de Meuron wurden eingeladen, einen Raum zu bespielen: Übergrosse Zeitungsberichte dokumentieren das eventuell etwas zu gross geratene Bauvorhaben in Hamburg. Sie zeigen das vorläufige Scheitern der Elbphilharmonie schonungslos und unzensiert. Man ist erstaunt über so viel Eigenkritik und gleichzeitig auch beeindruckt davon. Die Architekten begründen ihren Beitrag damit, dass manchmal unsichtbare Kräfte und Machenschaften ein architektonisches Projekt durchaus in ein Battleground transformieren können.

Das vertikale Slum «Torre David» in Caracas ist Ausgangspunkt, Insiprationsquelle und Thema der Fotoarbeit des Beitrags von Urban Think Tank (Alfredo Brillembourg, Hubert Klumpner) und Justin McGuirk. Eine Betonhülle, die Bauruine eines nie vollendeten 45-stöckigen Bürohauses in Caracas, wird nun von einer Gemeinschaft am Rande der Gesellschaft bewohn. Die Idee dieses sozialen Gemeinschaftsprojekts wird an der Biennale als Treffpunkt und venezolanisches Restaurant, das «Gran Horizonte», umgesetzt. Die Initianden sind überzeugt, dass eine gemeinsame Mahlzeit die Grundlage für den Common Ground einer Diskussion bildet. Die Jury würdigt dies mit dem Goldenen Löwen für die beste Ausstellung. Und die Besucher mit einer Schlange vor der Essensausgabe.

Venezolanische Mittagspause in Venedig.

Einen weiteren Tisch hat Valerio Olgiati gedeckt: Seine weisse Tafel in der Mitte des nächsten Raumes ist überdacht und bildet das Display für Inspirationsbilder seiner Kollegen. Er hat zeitgenössische Architekten, dessen Arbeit er als einzigartig betrachtet, aufgefordert, eins bis zehn Bilder einzureichen. Diese Bilder geben zusammen mit der stimmigen Installation im Raum ein Gefühl für die visuelle Welt der ausgewählten Architekten und kann als vielschichtiges Portrait der aktuellen Architektenszene gelesen werden.

Olgiati versammelt seine Kollegen um einen Tisch.

Bevor man nun das Boot in die Giardini nimmt, ist ein Besuch des chilenischen Beitrags zu empfehlen. Länder ohne eigenen Pavillon in den Giardini stellen auch in Arsenale aus, und Chile bespielt die eindrückliche Halle mit Lichtinstallationen, die man mit eigenen Augen sehen sollte.

Stillleben im «Pavillon» von Chile.

Giardini
Eine kleine Auswahl einiger Pavillons, die aufgefallen sind. Mehr Einblicke liefert das internationale eMagazinnoch diese Woche.

Der Goldene Löwe für den besten nationalen Beitrag in den Giardini geht wie erwähnt an den japanischen Pavillon. «Architecture possible here? Home-for-All» heisst der Beitrag von Toyo Ito, der mit drei jungen, aufstrebenden Architekten – Kumiko Inui, Sou Fujimoto und Akihisa Hirata – ein Home-for-All konzipiert: Ein Ort, wo die Opfer des Erdbebens und des Tsunamis vor eineinhalb Jahren zusammenkommen können, und einen «Raum zum atmen» vorfinden. Toyo Ito nimmt das unfassbare Unglück zum Anlass, neu über Architektur nachzudenken, oder sich ganz elementar zu fragen, wofür und für wen ein Gebäude erstellt wird.

Der Japanische Beitrag.

Ähnlich dem Schweizer Pavillon sind auch im Deutschen Pavillon grossformatige Bilder an den Wänden angebracht. Die Fotos zeigen Transformationen, die in den Augen des Generalkommissars Muck Petzet als gelungen betrachtet werden können. Die Ausstellung Reduce/Reuse/Recycle bietet dem Gebäudebestand eine Bühne. Nicht Spektakuläres wird hier gewürdigt, sondern es geht dem Ausstellungsmacher um die Wertschätzung des Vorhandenen. Designer Konstantin Grcic ist für die Ausstellungsgestaltung zuständig, was man zweifelsohne sieht: Mit einer einfachen Typographie und kurzen Beschrieben auf recycelten «Bänken» – die man kennt, wenn man schon mal bei Hochwasser in Venedig war – hat er das Konzept stringent bis zum Ende geführt. Möglicherweise hätte ein solcher Experte in Sachen Ausstellungsdesign und Kommunikation auch dem Schweizer Beitrag gut getan. Denn nicht nur der Inhalt, auch die Präsentation einer Idee ist zentral.

Der deutsche Beitrag. © RRR

Russland und die Freiheit
Der Russische Pavillon erhielt wie der Polnische und der Amerikanische eine spezielle Nennung von der Jury. Die «i-city» beleuchtet Russlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und macht den Besucher zu einem digitalen Spion, der mit einem Tabloid ausgerüstet die QR-Codes des Pavillons im Obergeschoss knackt. Im Keller werden über 60 Städte durch kleine Gucklöcher gezeigt, die während des Kalten Krieges geheime Stätten für Forschung und Technik waren, abgeschirmt von der Aussenwelt und nur für den Geheimdienst sichtbar. Am Mittwoch wurde der Pavillon von der Gegenwart eingeholt, vermummte Frauen demonstrierten für die Freilassung der verurteilten Mitglieder von Pussy Riot. Link zum Facebook-Beitrag.

Die digitale Revolution im Russischen Pavillon. Bild: John Hill

Gemeinsamer Diskurs
Trotz aller Bemühungen, die Allgemeinheit einzubeziehen, kann die Biennale in Venedig eigentlich gar nie Common Ground – hier Gemeinplatz für alle und jeden – sein, denn sie ist von Fachleuten konzipiert und richtet sich an ein Fachpublikum. Natürlich geht uns Architektur alle an, denn wir alle leben in einer gebauten Umwelt. Wir alle haben aber einen anderen Hintergrund, einen anderen Zugang und werden die Ausstellung verschieden lesen. Deshalb empfehlen wir die Reise nach Venedig unbedingt und freuen uns über Eindrücke und Meinungen, die hier gerne entgegengenommen und veröffentlicht werden. Unser Beitrag zu Common Groundist also eröffnet, denn nichts ist elitärer, als wenn man vor der Meinung der Anderen die Augen verschliesst oder die Kritik nur denen überlässt, die sowieso immer eine Meinung haben.

Hase im Skandinavischen Pavillon.
«Common Ground (...) ist eine Annahme, die einigen Diskursmodellen der Sprachwissenschaft und Kommunikationstheorie unterliegt und die im Wesentlichen von Herbert H. Clark und Edward F. Schaefer (1989) geprägt wurde. Auch in der Sprachphilosophie spielt der Common Ground, besonders nach dem Modell von Robert Stalnaker, eine wichtige Rolle. Es ist die Annahme über einen abstrakten gemeinsamen «Wissensraum», der zwischen Kommunikationspartnern besteht.» (Wikipedia.org)

Common Ground bedeutet wörtlich übersetzt Gemeinsamkeit. Doch manchmal ist Sprache nicht mächtig, alle Bedeutungen wiederzugeben. Ganz bewusst hat David Chipperfield, der Kurator der 13. Architekturbiennale von Venedig, die internationale Architekturausstellung dem offenen und vieldeutigen Thema Common Ground untergeordnet und die Teilnehmer ermutigt, «gemeinsame und geteilte Ideen darzustellen, welche die Basis der architektonischen Kultur bilden.»

Biennale Architettura 2012
29.08. bis 25.11.
10.00 bis 18.00
Montag geschlossen
www.labiennale.org

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