Angela Deuber mit Rudolf Fontana & Partner: Umbau eines denkmalgeschützen Doppelhauses in Stuls

Unendliche Einheit

Elias Baumgarten
30. Januar 2020
Blick über Stuls in Richtung Albulapass (Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA)

Einige wenige Häuser, eine kleine romanische Kirche, kaum eine Menschenseele, Stille – Stuls, romanisch Stugl, liegt nördlich ob Bergün auf einer Terrasse. Der kleine Weiler auf 1551 Metern inmitten Graubündens majestätischer Gebirgslandschaft bezaubert. Neue Ferienhäuser gibt es nicht, fast scheint es, als sei die Zeit stehen geblieben. Nur eine steile Stichstrasse führt aus dem Tal hinauf in dieses Idyll. Weit weg, ja fast vergessen sind dort Hektik und Lärm der Agglomerationen des Mittellandes. Die Luft ist sauber und kühl, statt dem Dröhnen des Verkehrs hört man das Rauschen des Windes im Bergwald. Dass in dieser Abgeschiedenheit ein architektonisches Bijou verborgen liegt, scheint zunächst reichlich unwahrscheinlich. Denn mitunter etwas in die Jahre gekommen wirken die historischen Häuser. Doch könnte dieser Eindruck kaum mehr täuschen: Unweit der um 1300 errichteten Kirche St. Johann steht ein besonderer Bau. Von aussen wie eine Bricolage wirkend, wartet das Doppelhaus, bestehend aus der Chesa Fontana und der Chesa Gabriel, mit einem beeindruckenden Raumerlebnis auf. Von 2009 bis 2012 hat Angela Deuber das denkmalgeschützte Gebäude mit rückseitig angebautem Stall zusammen mit dem Büro Rudolf Fontana & Partner aufwendig restauriert und umgebaut. Doch was macht das vergleichsweise unbekannte Erstlingswerk der Architektin so überzeugend?

Ansicht von der Dorfstrasse (Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA)
Überlagerung zweier Raumsysteme

Die ältesten Teile des Strickbaus, der auf einem Hanggrundstück an der Dorfstrasse steht, stammen aus dem Spätmittelalter. Sie wurden auf die Jahre 1387/88 datiert. Wie in der Region üblich, wurde das Haus über die Jahrhunderte kontinuierlich erweitert und ausgebaut. Charakteristisch dafür sind seine Kleinteiligkeit und die zahlreichen Niveauunterschiede zwischen den Zimmern. Nicht weniger als 37 Räume gab es, als Deuber und Fontana sich an die Planung des Umbaus machten. Einige der Trennwände wurden entfernt, um die einfache Grundstruktur des Objekts (wieder) herauszuarbeiten: Im Wesentlichen besteht es aus zwei Teilen mit je annähernd quadratischem Fussabdruck, die jeweils in allen Stockwerken durch immer zwei Wände in vier Räume unterteilt sind. Die Eingänge der Doppelhaushälften befinden sich heute an der Strasse auf Kellerniveau und rückseitig eine Ebene höher. Der vormalige Hocheingang an der Vorderseite, untypisch für die kleingrundrisslichen Wohnhäuser in Stuls, wurde entfernt.

Die Wohnräume mit schönen Strickwänden, Wand- und Deckentäfern, Naturputzoberflächen und rauen Gewölben wurden liebevoll restauriert. Dafür wurde das Interieur zunächst rückgebaut. Die Holzbretter wurden abgelaugt, die Kachelöfen instand gesetzt und hernach neu aufgemauert. Wo immer möglich, wurden die alten Türen und Fenster aufgefrischt und weiterverwendet. Auf eine zusätzliche Dämmschicht an den Aussenwänden wurde bewusst verzichtet.

Schlafkammer in der Chesa Fontana (Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA)
Nebenstube in der Chesa Fontana (Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA)

Vor dem Umbau verbanden 13 (!) unterschiedliche Treppen die Geschosse. Sie wurden grösstenteils entfernt. Neu wurde stattdessen eine Doppelwendeltreppe in weiss gestrichenem Ortbeton eingefügt. Die beiden Stiegen schrauben sich durch enge Röhren empor. Ihre Läufe sind schmal, die kleinere Treppe ist gerade 65 Zentimeter breit. Die fensterlosen Treppenräume muten entmaterialisiert an, von der Architektin ausgewählten Leuchten verstärken mit ihrem Licht diese Wirkung noch. Die Atmosphäre unterscheidet sich gänzlich von jener der Zimmer, die von vielen unterschiedlichen Holz- und Putzoberflächen geprägt werden und in denen es zahllose Details und Verzierungen zu entdecken gibt. Im ersten Obergeschoss sind die Treppenschächte – und somit auch die beiden Gebäudeteile – über eine Tür miteinander verbunden. So können die Haushälften autonom wie auch als Ganzes bewohnt werden. Die Treppenanlage zu betonieren, war inmitten der wertvollen Substanz nur unter grossem Aufwand möglich. So mussten zum Beispiel die Decken teils vorübergehend entfernt werden, um die Betonteile schalen zu können. 

Die neue Doppelwendeltreppe in weiss gestrichenem Beton prägt das umgebaute Haus. (Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA)

Ein weiterer radikaler Eingriff wurde im Dachgeschoss vorgenommen: Die Trennwände der vierteiligen Kammer wurden entfernt, sodass ein offener, heller Raum entstanden ist. Das neu isolierte und mit Blech eingedeckte Dach wird neben den Aussenwänden von nur einer Stütze getragen, die dezentral im Raum und genau auf dem Kreuzungspunkt der Wände in den Geschossen darunter steht. Die Lasten werden ihr über zwei voluminöse Balken aus Massivholz zugeleitet. Diese unorthodoxe, dem Kraftfluss scheinbar widersprechende Konstruktion wirkt dabei auf den ersten Blick statisch «unmöglich» und fordert die Sehgewohnheiten heraus. Die Positionierung von Balken und Stütze trägt entscheidend zur Zonierung des Dachgeschosses im Sinne des Vierraumsystems bei; die Höhenunterschiede des Fussbodens, die von den Zimmern darunter herrühren, tun ein Übriges. Alle Oberflächen sind – vom Holzboden abgesehen – weiss, die Wände wurden mit Gipskarton beplankt. So erscheint der Dachraum wie eine Abstraktion der Wohnräume darunter. 

Die Stütze im Dachraum steht auf dem Kreuzungspunkt der vierteiligen Kammerstruktur. (Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA)
Die Räume im 1. Obergeschoss führen zu den verschiedenen Höhen des Bretterbodens. (Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA)
Die Kraft der Inspiration

Aus dem wertschätzenden Umgang mit dem Bestand und der konsequenten, ja kompromisslosen Umsetzung der Inspiration schöpft das Haus grosse Kraft. Neu und Alt ergänzen sich komplementär und stärken einander – ähnlich wie beim bekannten Umbauprojekt «Birg mich, Cilli!» (2008) von Peter Haimerl im Bayerischen Wald, bei dem der Architekt drei Betonkuben in sein elterliches Bauernhaus aus dem Jahre 1840 gestellt hat, oder bei der Umgestaltung eines Stalls zum Wohnhaus in Rüegsauschen des Berner Büros Freiluft (2015), wo eine baumartige Struktur in den Bestand betoniert wurde. Durch die Verknüpfung der Räumlichkeiten über die Treppenanlage entsteht beim Projekt in Stuls die Illusion, das Gebäude sei eine endlose Einheit. Man meint immer neue Verknüpfungen und Perspektiven zu entdecken. Mitunter vermag man nicht mehr mit Gewissheit zu sagen, wie viele Räume man eigentlich schon durchschritten hat. Das an sich kleine Gebäude wirkt dadurch gross und weitläufig. Der Aufenthalt ist ein inspirierendes Erlebnis, das an M. C. Eschers berühmte Lithografie «Relativität» (1953) denken lässt, auf der ein unmögliches Arrangement aus unzähligen Räumen und Treppen zu sehen ist. Im Haus fühlt man sich geradezu entkoppelt von der Welt draussen. Man ist bei sich, die Aufmerksamkeit liegt voll auf der Architektur. Eine Wirkung, die noch verstärkt wird durch die dicken Wände und kleinen Fenster des historischen Bestandes. Wie wunderbar wäre es, sich zumindest für einige Tage im Jahr hierher zurückziehen zu dürfen.

Lageplan
Grundriss Untergeschoss
Grundriss Erdgeschoss
Grundriss 1. Obergeschoss
Grundriss Dachgeschoss
Querschnitt
Längsschnitt
Architektur
Angela Deuber, Chur
Angela Deuber, Julia Minnig, Mai Wakita
 
Rudolf Fontana & Partner AG, Domat/Ems
 
Ort
7482 Stugl/Stuls
 
Bauherrschaft
privat
 
Jahr der Fertigstellung
2012
 
Fotos
Schaub Stierli Fotografie, Zürich

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